Page 900 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Einundzwanzigstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Die Römer schickten ihren ersten Prätor nach Capua, als sie schon
vierhundert Jahre Krieg geführt hatten.
Wir haben oben S. Buch II, Kap. 6. hinlänglich erörtert, wie ganz anders
die Römer bei ihren Eroberungen verfuhren als die Mächte, die in
unserer Zeit ihre Herrschaft ausdehnen. Allen Städten, die sie nicht
zerstörten, sogar denen, die sich ihnen nicht als Bundesgenossen,
sondern als Untertanen ergaben, erlaubten sie, nach eignen Gesetzen zu
leben, und sie ließen keine Zeichen ihrer Herrschaft darin zurück. Sie
erlegten ihnen nur gewisse Bedingungen auf, bei deren Erfüllung sie ihre
Verfassung und Würde behalten durften. Dies Verfahren behielten die
Römer so lange bei, bis sie sich über die Grenzen Italiens ausbreiteten
und die Staaten und Reiche in Provinzen zu verwandeln begannen. Der
deutlichste Beweis dafür ist, daß sie ihren ersten Prätor nach Capua
sandten, und zwar nicht aus Herrschsucht, sondern auf Bitten der
Capuaner, die eines inneren Zwiespalts wegen einen römischen Bürger
haben wollten, der sie wieder zur Ordnung und Einigkeit brächte. Nach
diesem Beispiel und in der gleichen Notlage baten sich auch die
Einwohner von Antium einen Präfekten von Rom aus. Livius sagt über
diesen Vorfall und diese neue Regierungsart: Quod iam non solum
arma, sed iura Romana pollebant. (Daß nicht nur die römischen
Waffen weithin galten, sondern auch das römische Recht). IX, 20 (318 v.
Chr.). Das Zitat bei Machiavelli ist ungenau. Man ersieht daraus, wie
sehr das Verfahren der Römer ihre Vergrößerung erleichterte. Denn
Städte, die an Freiheit gewöhnt sind oder von ihren eignen Landsleuten
regiert werden, fügen sich weit williger unter eine Herrschaft, die sie
nicht sehen, selbst wenn sie etwas drückend ist, als unter eine, die sie
täglich vor Augen haben und die ihnen täglich ihre Knechtschaft
vorzuwerfen scheint. Ein zweiter Vorteil für den Herrscher ist der, daß
die Richter und Beamten, die in solchen Städten das Zivil- und Strafrecht
ausüben, nicht seine Diener sind. Somit kann nie ein Urteil ihm Vorwurf
oder Schande bereiten, und damit fallen viele Ursachen zu Verleumdung
und Haß gegen ihn fort. Wie wahr das ist, beweist außer vielen alten
Beispielen, die sich beibringen ließen, auch ein ganz neues aus Italien.
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