Page 902 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Zweiundzwanzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                         Wie falsch die Menschen oft wichtige Dinge beurteilen.


                Wie falsch oft die Ansichten der Menschen sind, sah und sieht jeder, der
                Zeuge ihrer Beschlüsse ist. Ja, werden diese nicht von hervorragenden
                Männern gefaßt, so verstoßen sie oft gegen alle Wahrheit. Da nun
                hervorragende Männer in verderbten Republiken, besonders in ruhigen
                Zeiten, aus Neid und Ehrgeiz angefeindet werden, so geschieht meist

                das, was aus einem allgemeinen Irrtum für gut erklärt oder von Leuten
                vorgeschlagen wird, die mehr die Gunst als das Wohl der Menge
                erstreben. In Zeiten des Unglücks tritt dieser Irrtum zutage, und dann
                nimmt man in seiner Not zu den Männern Zuflucht, die in ruhigen Zeiten
                gleichsam vergessen waren, wie an Ort und Stelle dargelegt werden soll.

                S. Buch III, Kap. 16. Auch sonst werden Leute ohne große Erfahrung
                durch manche Ereignisse leicht getäuscht, wenn nämlich ein solcher
                Vorfall viele wahrscheinliche Seiten hat, die die Menschen in ihren
                Einbildungen bestärken.
                     Ich komme hierauf durch den Rat, den der Prätor Numisius den
                Latinern gab, Siehe S. 199. als sie von den Römern geschlagen waren,
                und durch die Meinung, die ziemlich verbreitet war, als König Franz I.

                von Frankreich vor einigen Jahren nach Italien zog, um Mailand den
                Schweizern wieder zu entreißen. Franz von Angoulême, der nach
                Ludwigs XII. Tode (1515) König von Frankreich wurde, wollte das
                Herzogtum Mailand, das die Schweizer wenige Jahre zuvor (1512) auf
                Anstiften des Papstes Julius II. erobert hatten, seinem Reiche wieder
                einverleiben. Zur Erleichterung seines Unternehmens sah er sich in

                Italien nach Bundesgenossen um. Außer bei den Venezianern, die schon
                Ludwig XII. sich wiedergewonnen hatte, Durch den Frieden zu Blois
                (1513), den Franz I. erneuerte. Für die weiteren Ereignisse s. Lebenslauf,
                1515. versuchte er es auch bei Florenz und Papst Leo X., deren
                Gewinnung ihm besonders wichtig erschien, weil der König von Spanien
                Truppen in der Lombardei hatte und andre kaiserliche Kriegsvölker in
                Verona standen. Papst Leo ging auf den Vorschlag des Königs nicht ein,

                sondern ließ sich von seinen Räten (so hieß es) bereden, neutral zu
                bleiben, da man ihm bei diesem Entschluß den Sieg als gewiß hinstellte.





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