Page 903 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Denn es läge nicht im Vorteil der Kirche, daß der König oder die
Schweizer in Italien mächtig wären, vielmehr müsse man das Land von
den Fesseln beider befreien, wenn man ihm zu seiner alten Freiheit
verhelfen wolle. Beide zugleich, sei es getrennt, sei es vereint, zu
besiegen, sei unmöglich, und so wäre es das beste, daß sie sich
gegenseitig aufrieben und daß die Kirche dann mit ihren Verbündeten
über den Sieger herfiele. Unmöglich fände sich dazu eine bessere
Gelegenheit als jetzt, wo beide gegeneinander im Felde stünden, der
Papst aber seine Kriegsmacht bei der Hand habe und sie unter dem
Vorwand, seine Länder zu schützen, an der Grenze der Lombardei in der
Nähe beider Heere aufstellen könne. Hier könne er abwarten, bis es zur
Schlacht käme, die bei der Tapferkeit beider Heere nach aller
Wahrscheinlichkeit für beide Teile blutig sein und den Sieger so
schwächen werde, daß es für den Papst ein leichtes sei, ihn anzugreifen
und zu schlagen. So werde er zu seinem Ruhme Herr über die Lombardei
und der Schiedsrichter ganz Italiens werden. Wie falsch diese Rechnung
war, zeigte der Erfolg. Denn als die Schweizer nach langem Kampfe
geschlagen waren, getrauten sich die päpstlichen und spanischen
Truppen nicht etwa, die Sieger anzugreifen, sondern bereiteten sich sogar
zur Flucht vor. Und selbst diese hätte ihnen nichts geholfen, hätte der
König nicht aus Menschlichkeit oder Gleichgültigkeit einen zweiten Sieg
verschmäht und sich mit einem Vertrag mit der Kirche begnügt.
Jene Ansicht hatte einige Gründe für sich, die von weitem richtig
erscheinen und doch der Wahrheit stracks zuwiderlaufen. Denn der
Sieger erleidet selten starke Verluste, weil er seine Leute nur im Kampfe,
nicht auf der Flucht verliert. In der Hitze des Gefechts aber, wenn sich
Mann gegen Mann gegenüberstehen, fallen wenige, zumal es meist nur
kurze Zeit dauert. Sollte es aber auch länger dauern und der Sieger große
Verluste haben, so ist doch das Ansehen, das ihm der Sieg erwirbt, und
der Schrecken, den er verbreitet, so groß, daß er die Verluste bei weitem
überwiegt. Ein Heer also, das ihm in der Meinung entgegentritt, er sei
geschwächt, würde sich getäuscht finden, es müßte denn ein Heer sein,
das sich jederzeit, vor wie nach dem Siege, mit ihm messen könnte. In
diesem Falle könnte es je nach Glück oder Tapferkeit siegen oder
unterliegen; in jedem Fall aber wird derjenige, der zuerst gesiegt hat, im
Vorteil sein. Das ergibt sich deutlich aus dem Beispiel der Latiner und
aus dem Trugschluß des Prätors Numisius, wie aus dem Schicksal der
Völker, die ihm glaubten. Nach dem Sieg der Römer über die Latiner
Am Vesuv, 340 v. Chr. Vgl. Livius VIII, 9 f. schrie er in ganz Latium
aus, nun sei es Zeit, die durch die Schlacht geschwächten Römer
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