Page 905 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Dreiundzwanzigstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Wie sehr die Römer den Mittelweg mieden, wenn ein Vorfall sie
nötigte, ein Urteil über ihre Untertanen zu sprechen.
Iam Latio is status erat rerum, ut neque pacem, neque bellum
pati possent. Livius VIII, 13 (338 v. Chr.). (Latium befand sich bereits
in solchem Zustand, daß es weder Krieg noch Frieden ertragen konnte.)
In der allerunglücklichsten Lage befindet sich ein Fürst oder eine
Republik, die dahin gelangt ist, daß sie den Frieden nicht annehmen und
den Krieg nicht fortsetzen kann. In solche Umstände kommt ein Staat,
wenn er durch die Friedensbedingungen allzusehr leidet und bei
Fortsetzung des Krieges entweder einem Bundesgenossen oder dem
Feinde zur Beute fällt. In diese Lage gerät er durch schlechte Ratschläge
und Entschlüsse infolge Überschätzung der eignen Kräfte, wie wir oben
gesagt haben. Denn ein Fürst oder eine Republik, die ihre Kraft richtig
einschätzt, kommt schwerlich soweit wie die Latiner, die mit den
Römern Frieden schlossen, als sie hätten Krieg führen sollen, und Krieg
anfingen, als sie Frieden schließen mußten. Auf diese Weise hatten sie es
dahin gebracht, daß die Freundschaft und Feindschaft der Römer ihnen
gleich schädlich war.
Die Latiner waren also zuerst von Manlius Torquatus, dann von
Camillus besiegt und völlig zu Boden geworfen. Dieser hatte sie
gezwungen, sich den Römern auf Gnade und Ungnade zu ergeben, in
alle Städte Latiums Besatzungen gelegt und von allen Geiseln
genommen. Dann kehrte er nach Rom zurück und berichtete dem Senat,
ganz Latium liege zu Füßen des römischen Volkes. Da nun das Urteil
über Latium bemerkenswert ist und Nachahmung verdient, wenn ein
Fürst sich in ähnlicher Lage befindet, will ich die Worte anführen, die
Titus Livius dem Camillus in den Mund legt. VIII, 13, 338 v. Chr. nach
seinem Sieg bei Pedum über die Tiburtiner. Man ersieht daraus, wie die
Römer bei der Vergrößerung ihrer Herrschaft verfuhren, und auch, wie
sie bei Urteilen in Staatssachen stets den Mittelweg mieden und die
schärfsten Maßnahmen ergriffen. Denn regieren heißt nichts andres, als
die Untertanen so zu halten, daß sie dich weder verletzen können noch
dürfen. Das erreichst du entweder dadurch, daß du dich ihrer
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