Page 895 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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ihnen aber diese Art der Vergrößerung nicht, so würden sie sich sagen,
                daß Eroberungen auf jedem andern Wege der Verderb der Republiken
                sind. Dann würden sie dem Ehrgeiz Zügel anlegen, indem sie ihren Staat

                im Innern durch Gesetze und Sitten gut einrichteten, Eroberungen
                verböten und allein auf ihre Verteidigung und den guten Zustand ihrer
                Verteidigungsmittel bedacht wären, wie die freien deutschen Städte, die
                auf diese Weise schon seit längerer Zeit frei leben.
                     Wie ich jedoch schon an andrer Stelle S. Buch I, Kap. 6. sagte, als
                ich den Unterschied zwischen einer auf Eroberung und einer auf
                Erhaltung angelegten Verfassung erörterte, kann es einer Republik

                unmöglich gelingen, immer ruhig zu bleiben, sich ihrer Freiheit zu
                erfreuen und sich in ihren engen Grenzen zu erhalten. Belästigt sie selbst
                auch andre nicht, so wird sie doch von andern belästigt, und daraus wird
                bei ihr der Wunsch und die Notwendigkeit zu Eroberungen entstehen.
                Hätte sie aber auch keinen äußeren Feind, so fände sie einen in ihren
                Mauern, wie es das Schicksal aller großen Städte zu sein scheint. Wenn

                also die freien deutschen Städte längere Zeit in dieser Weise leben und
                bestehen konnten, so liegt das an gewissen örtlichen Eigentümlichkeiten,
                die anderwärts nicht vorkommen und ohne die sie nicht so leben
                könnten.
                     Der Teil Deutschlands, von dem ich rede, gehörte wie Frankreich und
                Spanien zum römischen Reich. Als dies aber verfiel und unter dem
                römischen Reiche bloß Deutschland verstanden wurde, nutzten die

                mächtigsten Städte die Ohnmacht oder Not der Kaiser aus, um sich frei
                zu machen, und kauften sich durch einen kleinen Jahreszins vom Reiche
                los. In dieser Weise kauften sich alle reichsunmittelbaren Städte nach
                und nach los. Zur selben Zeit empörten sich einige dem Herzog von
                Österreich lehnspflichtige Gemeinden, darunter Freiburg und Schwyz
                Freiburg in der Schweiz trat erst 1483 der Schweizer Eidgenossenschaft

                bei; Schwyz war einer der Urkantone, die sie 1315 begründeten. und
                andre, die gleich anfangs vom Glück begünstigt wurden und allmählich
                zu solcher Macht gediehen, daß sie nicht nur nicht unter das
                österreichische Joch zurückkehrten, sondern der Schrecken aller ihrer
                Nachbarn wurden. Das sind die Schweizer. Deutschland zerfällt also in
                Schweizer, freie Reichsstädte, Fürsten und den Kaiser. Wenn aber bei
                solcher Verschiedenheit der politischen Zustände keine Kriege oder doch

                keine von langer Dauer entstehen, so liegt das am Kaiser. Hat er auch
                manchmal wenig Macht, so steht er doch in solchem Ansehen, daß er die
                Rolle eines Vermittlers spielt, der mit seiner Autorität dazwischentritt
                und sofort jeden Zwist niederschlägt. Die größten und längsten Kriege,





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