Page 155 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Einleitung in die allgem. Theorie d, Mannigfaltigkeiten v. Bewusstseinsinhalten. 143

     SO müsste er die in Ä sich verwirklichende Thätigkeit des Erfassens
     vollkommen in Anspruch nehmen, ohne dieselbe ihrer Form nach zum
     Ausdruck zu bringen. Ein solcher Bestandtheil wäre aber undenkbar.
         So ergibt sich denn die Einsicht, dass sowohl  die einfachen als
     auch die zusammengesetzten Bewusstseinsinhalte durch ihre Intensität
     und Qualität vollständig bestimmt werden.  Ein Unterschied besteht
     nur darin, dass  in der  Intensität und Qualität eines zusammenge-
      setzten Bewusstseinsinhaltes zugleich die Intensität und Qualität von
     mindestens einem anderen Bewusstseinsinhalte wahrnehmbar  ist, wäh-
     rend dies — soweit die Erfahrung lehrt — für einen einfachen Be-
     wusstseinsinhalt nicht zutrifft.


                                     11.
         Fasst man nunmehr die Beziehungen ins Auge, welche erfahrungs-
      gemäß zwischen den Bewusstseinsinhalten bestehen und auf der inten-
      siven und qualitativen Beschaffenheit derselben beruhen, so tritt der
      angegebene Unterschied in bemerkenswerther Weise zu Tage.
         Sind nämlich  die aufeinander bezogenen Bewusstseinsinhalte zu-
      sammengesetzt,  so ist es möglich,  die Beziehungen gegebenen Falls
      durch den Hinweis auf ihre Bestandtheile verständlich zu machen.
      Für die einfacheren Bewusstseinsinhalte hingegen,  die gleichfalls zu
      einander in mannigfach abgestufte Beziehungen der Aehnhchkeit und
      der Verwandtschaft, der Benachbarung und des Gegensatzes treten,
      ist diese Möglichkeit nicht vorhanden.
         Eine  in der angedeuteten Weise erklärbare Beziehung zwischen
      zusammengesetzten Bewusstseinsinhalten besteht indessen unabhängig
      von  ihrer Erklärung.  Denn  sie gründet  sich  auf  die unmittelbar
      erfasste Beschaffenheit der Bewusstseinsinhalte, an der  die Wahr-
      nehmung von Bestandtheilen nichts ändert.  Sie ist somit vorhanden,
      auch wenn die letzteren noch nicht für sich allein erlebt worden sind
      und darum nicht nachgewiesen werden können.     Die Beziehung  ist
      alsdann  eine  unerklärte Thatsache.  Da  sie  aber  ihre Erklärung
      findet,  sobald  die Bestandtheile wahrgenommen werden,  so  ist sie
      auch schon vorher durch die Annahme von Bestandtheilen erklärbar,
      falls hierfür bloß das Vorhandensein oder Fehlen derselben, nicht
      aber ihre qualitative Eigenart,  die erlebt werden muss und nur als
      Erlebniss gegeben sein kann, in Betracht kommt.
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