Page 27 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Das Inertialsystem vor dem Forum der Naturforschung, 15
wird, als eine hinreichend genaue Annäherung für praktische Zwecke betrachtet
werden darf; dass es m. e. W. eine Annäherung darstellt, die vorläufig, d. h. so
lange nicht eine beträchtliche Erweiterung unserer Erfahrung eintritt, nicht über-
troffen werden könne.
Mir scheint aber, dass die historisch-kritische Methode uns bereits über diesen
Standpunkt hinausführen dürfte. Denn wir wissen jetzt, dass die sogenannten
Fixsterne gar keine festen Sterne sind; und es sind Mittel ersonnen worden
zur Berichtigung von Beobachtungen, die in jener Annahme gemacht worden
waren. Wir wissen ebenso , dass die Bewegungsgesetze nicht soweit
gelten ,
man sie auf eine durch den Drehungswinkel der Erde bestimmte Zeitscala
bezieht; und eine rohe Correction zum Anbringen an dieser Zeitscala im Falle
zeitlich lang ausgedehnter periodischer Bewegungen ist bestimmt worden. Des-
halb darf das erste Gesetz in derjenigen Ausdrucksweise, die auf die Fixsterne
und die Erddrehung Bezug nimmt, nicht länger als ein für alle Zwecke hin-
reichend genaues angesehen werden; und der genaue Ausdruck des Gesetzes, so
wie dasselbe empirisch bestimmt und bei der wirklichen Arbeit angewandt wird,
ändert sich von Tag zu Tag, oder wenigstens von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Es
erhebt sich daher die Frage: Können wir die Bewegungsgesetze nicht vielleicht
in derartige allgemeine Formen bringen, dass die empirischen Formen, die sie zu
irgend einer Zeit haben mögen , als besondere Fälle betrachtet werden können,
die durch den besonderen Stand der derzeitigen (astronomischen) Erkenntniss be-
dingt werden?
Die zweite der oben genannten Methoden 36) ist dazu bestimmt, Gesetze von
jener Art zu liefern. Man kann sagen, dass Professor J. Thomson sie angewandt
hat, als er zeigte, wie auf Grund beobachteter successiver ßelativpositionen von
als geradlinig bewegt gegebenen Massentheilchen die Axen, in Bezug auf welche
die Bahnen derselben geradlinig sind, geometrisch bestimmt werden können 37).
Ebenso kann man sagen, dass W. Thomson u. Tait sie in Anwendung bringen,
wenn sie auf Grund einer Ableitung aus dem ersten Gesetz zeigen, wie wir uns
die Gewinnung > fester Bezugsrichtungen« denken können 38). Aber diese Autoren
machen keinen Versuch , eine formale Bestimmung eines dynamischen Bezugs-
systemes zu geben.
Lange wandte diese nämliche Methode in der oben angeführten Abhandlung
an39,j indem er seinen Vorschlag zur näheren Bestimmung auf ein rein phoro-
nomisches (kinematical) Ergebniss gründete, nämlich, dass für drei oder weniger
als drei Punkte, die relativ zu einander in ganz beliebiger Distanzänderung be-
griffen sind, sich stets ein Coordinatensystem , ja sogar eine unendKche Anzahl
solcher Systeme finden lässt, in Bezug auf welche diese Punkte geradlinige Bahnen
haben werden, während für mehr als drei solche Punkte dies nur unter beson-
deren Umständen möglich ist. Es folgt daraus, dass das Gesetz von der Gleich-
förmigkeit der Bewegungsrichtung unbeeinflusster Massentheüchen für drei solche
Theilchen eine blosse Uebereinkunft darstellt, und dass es nur insoweit Erfahrungs-
ergebniss ist, als es für mehr als drei Massentheüchen in Bezug auf ein und das-
selbe System zutrifft. Von dieser Erwägung ausgehend kann gerade so, wie die
dynamische Zeitscala als eine solche Zeitscala definirt wird, bezüglich welcher ein
unbeeinflusstes Massentheilchen gleichförmig fortschreitet, das dynamische Bezugs-
system als ein solches System definirt werden, in Bezug auf welches drei unbe-
einflusste Theilchen auf geradlinigen Bahnen dahinschreiten. Indem Lange diese