Page 25 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Das Inertialsystem vor dem Forum der Naturforschung.  13

     handeln, bezogen wird.  Seine Kritik schießt daher nothwendig etwas weit vom
     Ziel vorbei.  Sie kann folgendei*maßen zusammengefasst werden:  1) »Grleichförmige
     Bewegung ist vollkommen verständlich  ; und deshalb ist im Ausspruch des ersten
     Gesetzes  eine Angabe über das Axenkreuz  durchaus  entbehrlich.«  2) »Zudem
     sind  die Schwierigkeiten,  welche  der  Specificirung der Axen entgegenstehen,
     praktisch unübersteiglich.«
        Ad 1) vsdrd man bemerken, dass diese These sich ganz und gar auf die Ver-
     ständlichkeit der gleichförmigen Bewegung an und für sich stützt, und
     dass daher die Nothwendigkeit der Angabe von Axen im Falle des zweiten, oder
     des  ersten Gesetzes in der Lodge 'sehen Fassung: »Ohne Kraft kann es keine
     Beschleunigung der Materie geben«, nicht im mindesten davon erschüttert wird.
     Denn  in keinem  von beiden Fällen wird auf  »die  gleichförmige Bewegung«
     Bezug genommen.
        Während nicht zugegeben werden kann, dass »solche Begriffe wie Bezugsaxen
     für die Vorstellung  der sogenannten gleichmäßigen Geschwindigkeit überhaupt
     unnöthig seien«, — indem doch »gleichmäßig« eine solche Geschwindigkeit heißt,
     deren Größe und Richtung bezüglich der zu ihrer näheren Bestimmung ange-
     wandten Axen keine Veränderung erleiden, — ist es nichtsdestoweniger zutreffend,
     dass die Bestimmung besonderer Axen zu diesem Zwecke nicht erforderlich
     ist.  Indessen die Verständlichkeit des ersten Gesetzes setzt mehr voraus, als die
     bloße Vorstellung von dem, was mit Gleichförmigkeit der Geschwindigkeit ge-
     meint ist. Denn dasselbe ist nicht eine bloße Feststellung über gleichförmige
     Geschwindigkeit  als solche,  sondern eine Behauptung des Inhaltes, dass
     ein Massentheilchen unter gegebenen Umständen eine gleichförmige Geschwindig-
     keit haben müsse. Nun kann aber eine Geschwindigkeit, welche bezüglich einer
     Axengamitur gleichmäßig ist,  in Hinsicht auf andere Garnituren ungleichmäßig
     sein.  Es ist daher auf einmal klar, dass, wenn wir den gewöhnlichen Kraftbegriff
     anwenden,  die von dem Gesetz  aufgestellte Behauptung gar nicht für alle Axen
     gelten und folglich keinen bestimmten Sinn haben kann,  es sei denn, dass man
     uns die Axen namhaft macht,  in Bezug worauf jene Behauptung gemeint ist^O],
        Vieles kann natürlich ohne nähere Bestimmung von Axen aus dem ersten
     und zweiten Gesetz hergeleitet werden.  Die ganze dynamische Wissenschaft legt
     für diese Thatsache Zeugniss ab.  Aber es sind, wie Streintz in dem oben ge-
     nannten Werke  gezeigt  hat3i;,  viele  praktische  Unzuträglichkeiten und  viele
     unnöthige Complicationen aus dem Gebrauch dieser Gesetze in ihrer unbestimmten
     Form hervorgegangen; und ich werde unten Gelegenheit haben, auf ein Paradoxon
     Bezug zu nehmen, nämlich die (angebliche) Absolutheit der Drehbewegung unge-
     achtet der Relativität der Bewegung, welches Paradoxon seine Lösung erhält, so-
     bald die Relativität jener Gesetze anerkannt wird.
        Die nähere Bestimmung von Axen, mit Bezug auf welche das erste und zweite
     Gesetz in Geltung stehen, oder m. a. W., von sogenannten dynamischen Bezugs-
     systemen  ist so keineswegs  bloß  ein  verfeinertes Bedürfniss  des pedantischen
     mathematischen Verstandes. Im Gegentheil,  sie hilft einem empfindlichen Mangel
     ab.  Dieser Mangel macht sich  freilich bei Behandlung der einfachen Probleme
     der gewöhnlichen Schule nicht bemerklich. Denn die groben Experimente, welche
     in Elementarbüchem gewöhnlich als Ausgangspunkte der Gesetze angeführt werden,
     lassen erkennen, dass deren Geltung  als auf im Erdkörper festgelegte Axen be-
     zogen vorausgesetzt wird ; und diese stillschweigende Art der näheren Bestimmung
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