Page 50 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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44   Kapitel 3  •  Der Europarat und die EMRK


                                  basierenden nationalen Rechtsakten ins Feld geführt werden
                                  kann. Das ist problematisch, weil die Mitgliedstaaten (kurz
                                  auch MS) der EU die entsprechenden Hoheitsrechte an die
   2                              EU als internationale Organisation übertragen haben, diese
                                  aber nicht direkt an die Rechte der EMRK gebunden ist. Die
   3                              Leitentscheidung ist die noch zum EGV ergangene Rechtssa-
                                  che Matthews (EGMRE 1999-I, 251).

                                  Frau Matthews (M) war Britin mit Wohnsitz in Gibraltar (G). G ist
                                  nicht Teil Großbritanniens, dennoch sind die dort lebenden Bri-
                                  ten Staatsangehörige im Sinne des EUGV/AEUV. M beantragte
                                  ihre Eintragung als Wählerin für die Wahlen zum Europäischen
                                  Parlament (EP) im Jahre 1994. Nach Anhang II des Beschlusses
                                  zur Einführung allgemeiner und unmittelbarer Wahlen der Ab-
                                  geordneten des EP (BGBl. 1998 II, 387) gilt dieser auf G nicht.
                                  Folglich lehnten die zuständigen britischen Stellen den Antrag
                                  ab. Nach Erschöpfung des Rechtsweges rügte M vor dem EGMR,
                                  durch die Ablehnung in ihrem Recht aus Art. 3 I. ZP EMRK, wel-
                                  ches das Abhalten freier Wahlen sicherstellen soll, verletzt wor-
                                  den zu sein.
          Die Mitgliedstaaten der EMRK   Die fragliche Rechtsverletzung ging von der EU und nicht von
          können sich ihren Verpflich-  Großbritannien aus. Die EU ist aber nicht Mitglied der EMRK. In
          tungen nicht entziehen.  dem Verfahren stellte der EGMR fest, dass sich ein Mitgliedstaat
                                  der EMRK, hier Großbritannien, durch Abschluss eines anderen
   2                              völkerrechtlichen Vertrages, hier des AEUV, nicht seinen aus der
                                  EMRK erwachsenden Verpflichtungen entziehen darf. Eine Flucht
                                  in anderes Völkerrecht ist nicht möglich. Im Ergebnis können
   2                              unionsrechtliche Akte vor dem EGMR auf ihre Vereinbarkeit mit
                                  den Rechten der EMRK hin überprüft werden. Diese Rechtspre-
   2                              chung des EGMR ist sehr zu begrüßen, da sie gewährleistet, dass
                                  die Anwendbarkeit der von der Konvention geschützten Men-
   2                              schenrechte seitens der Mitgliedstaaten nicht umgangen werden
                                  kann. In der Sache selbst bekam M Recht, da die Verzerrung des
                                  Erfolgswertes der Stimmen durch die Nichtzulassung einen nicht
   2                              zu rechtfertigenden Eingriff darstellte.
          Aus der Anwendung zweier   Der Matthews-Grundsatz schafft als praktisches Ergebnis einen
   2      Rechtsordnungen erwachsen   rechtlichen Zwiespalt für die Staaten, die sowohl Mitglied der EU
                                  als auch der EMRK sind. Das Unionsrecht geht dem jeweiligen na-
          Rechtsprobleme.
                                  tionalen Recht vor, jeder EU-MS ist verpflichtet dieses zu befolgen
   2                              (Anwendungsvorrang des Unionsrechts ▶ Abschn. 4.2). Im Falle
                                  der Unvereinbarkeit der fraglichen unionsrechtlichen Vorschrift
   2                              mit der EMRK müsste derselbe EU-MS aus konventionsrechtlichen
                                  Gründen die Rechtsvorschrift unangewendet lassen. Wie der MS
   2                              sich auch verhält, er verstößt entweder gegen die eine oder ge-
                                  gen die andere Rechtsordnung mit dem Risiko einer Verurteilung
                                  zu Schadensersatzzahlungen wegen rechtswidrigen Verhaltens
                                  (Art. 41 EMRK, Art. 260 II UAbs. 2 AEUV). Aufgrund der völker-
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