Page 52 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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46   Kapitel 3  •  Der Europarat und die EMRK

                                  3.2.1  Die EMRK als unmittelbar
                                        für den Bürger geltendes Recht

   2      Durch Bundesgesetz werden   Die EMRK als Vertragsvölkerrecht und ihre von der Bun-
          völkerrechtliche Verträge wie   desrepublik unterzeichneten ZP erhalten ihre innerstaatliche
   3      die EMRK und die ZP in das   Wirksamkeit durch Art. 59 II 1 GG. Durch die Übernahme
          Bundesrecht übernommen.  erhalten sie den Rang eines Bundesgesetzes, somit stehen sie
                                  direkt unter der Verfassung, dem GG. Das bedeutet, dass die
                                  EMRK auch wie ein normales Bundesgesetz anzuwenden und
                                  zu beachten ist.
          Das spätere Gesetz verdrängt   Problematisch ist, ob die EMRK und ihre Zusatzprotokolle,
          das frühere.            weil sie in der Bundesrepublik grundsätzlich nur Gesetzesrang
                                  haben, durch zeitlich nachfolgende deutsche Gesetze innerstaat-
                                  lich abgelöst werden. Nach dem Wortlaut des Art. 59 II 1 GG
                                  ist das Zustimmungsgesetz und gewöhnliches Bundesgesetz,
                                  welches nach der „lex posterior-Regel“ durch ein nachfolgen-
                                  des Bundesgesetz geändert werden könnte. Die EMRK behielte
                                  dann weiter denselben völkerrechtlichen Inhalt, würde aber in
                                  Deutschland so nicht mehr gelten. Diese Rechtslage ist wegen
                                  der menschenrechtlichen Bedeutsamkeit der Konvention nicht
                                  gerade glücklich, so dass der Grundsatz des „treaty override“
                                  im Bereich der unveräußerlichen Menschenrechte verfassungs-
                                  rechtlich eingeschränkt wird (BVerfG, 2 BvL 1/12, Rn. 76).
          Völkerrechtskonforme Aus-  Im  Einzelnen:  Nach dem  Grundsatz der Völkerrechts-
   2      legung                  freundlichkeit des Grundgesetzes muss das „spätere Gesetz“
                                  völkerrechts- und vertragskonform ausgelegt werden, weil
                                  die Bundesrepublik sich keinen völkerrechtlichen Vertrags-
   2                              verstoß zuschulden kommen lassen will. Das spätere Gesetz
                                  wird dann so gelesen, als habe der Gesetzgeber nicht von der
   2                              völkerrechtlichen Verpflichtung abweichen wollen. Das ist die
                                  sog. völkerrechtskonforme Auslegung von innerstaatlichen
                                  Gesetzen (s. BVerfGE 74, 358/370). Das Völkerrecht dient in-
   2                              soweit als Auslegungshilfe für die Grundrechte, die rechtsstaat-
                                  lichen Grundsätze der Verfassung und die Bundesgesetze. Von
   2                              mehreren möglichen Auslegungen eines Gesetzes ist danach
                                  immer die völkerrechtsfreundliche zu wählen. Im Ergebnis
   2                              führt der Grundsatz zu einer mittelbaren Geltung der EMRK
                                  für das deutsche Recht, ähnlich der mittelbaren Drittwirkung
                                  von Grundrechten.
   2                                 Zu beachten ist, dass der Grundsatz der völkerrechts-
                                  freundlichen Auslegung nicht grenzenlos gilt, die metho-
   2                              dischen Grenzen der Gesetzesauslegung gelten auch hier
                                  (BVerfGE 111, 307 / 323, 329). Eine Auslegung entgegen dem
                                  eindeutigen Verfassungs- oder Gesetzeswortlaut ist danach
   2                              nicht möglich.
                                     Im Bereich der unveräußerlichen und unverletzlichen
                                  Menschenrechte geht das BVerfG darüber hinaus und weist
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