Page 57 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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3.2 • Die EMRK
3.2.4 Die wichtigsten Menschenrechte
Im Folgenden werden die materiellen Verbürgungen der
EMRK, die Menschenrechte, näher dargestellt.
Das Recht auf Leben wird von Art. 2 EMRK und Art. 1 ZP Recht auf Leben
VI geschützt. Nach Art. 2 I EMRK wird das Recht auf Leben Art. 2 EMRK und Art. 1 ZP VI
gesetzlich geschützt, die Vollstreckung der Todesstrafe bleibt schützen das Recht auf Leben.
nach Satz 2 der Vorschrift dennoch möglich. Dies gilt nicht
für die Staaten, die das ZP VI ratifiziert haben, da danach die
Todesstrafe mit Ausnahme von Kriegszeiten abgeschafft ist.
Ausnahmen vom ZP VI sind, anders als bei Art. 2 EMRK, nicht
möglich.
Umstritten ist, inwieweit Art. 2 EMRK auch das ungebo-
rene Leben schützt. Nach Ansicht des EGMR sind Embryo
und Fötus nicht geschützt, da sie keine Personen im Sinne der
Vorschrift darstellen (EGMR, Vo, NJW 2005, 727). Dem Fötus
könne jedoch die Menschenwürde zustehen. In jedem Fall ist
die deutsche Abtreibungsregelung des § 218 StGB mit Art. 2 I
EMRK vereinbar.
Laut Art. 2 II EMRK wird eine Tötung nicht als Verlet- Rechtfertigungsgründe
zung des Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbe-
dingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt: a) um jeman-
den gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen; oder b) um
jemanden rechtmäßig festzunehmen oder das Entkommen
einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern;
oder c) um einen Aufruhr oder einen Aufstand rechtmäßig
niederzuschlagen. Aufruhr ist eine Situation, in der von einer
Menschenmenge Gewalttaten begangen werden oder unmit-
telbar bevorstehen. Die Gründe sind abschließend und alter-
nativ. Unbedingt erforderlich ist die Gewaltanwendung, wenn
sie verhältnismäßig ist.
Fraglich ist, ob der finale Todesschuss nach Art. 2 II Finaler Todesschuss
EMRK gerechtfertigt werden kann. Der finale Todesschuss ist
die absichtliche Tötung eines Menschen durch die Staatsge-
walt zur Rettung eines anderen. Problematisch ist hier Art. 2 I
2 EMRK, der die absichtliche Tötung untersagt und somit
gegen die Anwendbarkeit der Vorschrift sprechen könnte.
Jedoch trennt Abs. 2 nicht mehr zwischen absichtlicher und
unabsichtlicher Tötung, sondern stellt nur auf den Zweck des
Tätigwerdens ab, so dass die Norm auch bei absichtlichem
Töten eingreift. Aufgrund der Schwere des Eingriffs ist der
finale Todesschuss nur als ultima ratio (letztes Mittel) her-
anzuziehen.
Somit lässt Art. 2 II lit. a EMRK z. B. den gezielten To- Im deutschen Recht kann das
desschuss auf Geiselnehmer zu, deren Geiseln sich in un- Rechtsgut „Leben“ nicht abge-
mittelbarer Gefahr befinden. Problematisch ist dagegen, wie wogen werden.
sich Art. 2 II lit. a EMRK mit § 32 StGB (Notwehr) verträgt.