Page 56 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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50 Kapitel 3 • Der Europarat und die EMRK
Verein kann etwa kein Recht auf Leben haben; eine Firma
kann kein Recht auf Gleichheit in der Ehe haben. Der sachli-
che Anwendungsbereich ist laut Art. 1 EMRK gegeben, wenn
2 die Personen der Hoheitsgewalt eines Konventionsstaates un-
terstehen. Verpflichtete der EMRK sind somit alle staatlichen
3 Herrschaftsgewalt Stellen und Träger von Staatsgewalt (in Deutschland auch die
Im Falle eines abhängigen Beliehenen) eines MS; jeder Staat ist für das Handeln seiner
de-facto-Regimes reicht Organe verantwortlich. Ein Unterstehen der Hoheitsgewalt ist
schon der entscheidende zum einen auf dem Territorium eines MS gegeben (es fehlt
Einfluss (decisive influence) bei Akten innerhalb einer Organisation, s. EGMR, Boivin,
der wirkliche Hoheitsgewalt Urt. v. 9.9.2008), zum anderen aber auch ausnahmsweise bei
ausübenden Macht aus (Ver- extraterritorialen Akten. Das ist gegeben, wenn der Konventi-
pflichtung Russlands zur Ein- onsstaat die tatsächliche Kontrolle über das Gebiet ausübt, sei
haltung der Konventionsrechte es durch militärische Kontrolle (bejaht für die türkische Kont-
in Transnistrien, EGMR, Ilascu, rolle in Nordzypern; EGMR, Loizidou, HRLJ 1995, 15, Rz. 62),
Urt. v. 9.7.2004, Rz. 392 ff.). oder durch Zustimmung einer anderen Regierung zu einem
hoheitlichen Tätigwerden (EGMR, Bankovic, EGMRE 2002-
XII, 333, Rz. 71). Im Rahmen des Kosovo-Einsatzes der NATO
hat der EGMR die tatsächliche Kontrolle der NATO-Staaten
über das jugoslawische Territorium unter Heranziehung eines
strikten Standards verneint, da die Annahme einer extraterri-
torialen Herrschaftsausübung die Ausnahme sei und die Vor-
aussetzungen im Falle eines Bombardements außerhalb eines
besetzten Gebiets nicht vorlägen (EGMR, Bankovic, a. a. O.
2 Rz. 80). Hoheitsgewalt kann auch vorliegen, wenn Personen
unter der Gewalt und Kontrolle eines Mitgliedstaats stehen,
wie z. B. bei Akten von diplomatischem oder konsularischem
2 Personal (EGMR, Al-Skeini, Urt. v. 7.7.2011, Rn. 134),beider
Wahrnehmung von Regierungsbefugnissen auf Einladung
2 (EGMR, Al-Skeini, a. a. O., Rn. 135) oder bei der Ausübung
unmittelbarer physischer Gewalt und Kontrolle (EGMR, Urt.
v. 7.7.2011, Al-Jedda, Rn. 85).
2 Nach der neueren Rechtsprechung ist der Anwendungs-
bereich aus teleologischen Erwägungen heraus nicht eröff-
2 net, wenn die MS aufgrund eines UN-Mandats tätig werden
(EGMR, Behrami u. a., Urt. v. 2.5.2007, Rn. 146 ff.), da dem
2 UN-System grundlegende Bedeutung für die Friedenssi-
cherung zukomme, welches die MS aufgrund Art. 103 SVN
befolgen müssten. Das Verhalten von im Rahmen eines UN-
2 Mandates entsendeten Truppen eines EMRK-MS ist dem-
nach nicht überprüfbar. Zu beachten ist, dass die sachliche
2 Eröffnungsnorm des Art. 1 EMRK keine materiellen Rechte
gewährt.
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