Page 51 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
P. 51
3
45
3.2 • Die EMRK
rechtlichen Selbständigkeit der beiden Vertragswerke ist dieses
Dilemma nur durch eine Kooperation der beiden zuständigen
Gerichtshöfe EuGH und EGMR dergestalt zu lösen, dass sie di-
vergierende Rechtsauslegungen vermeiden und in Konfliktfällen
zurückhaltend urteilen (vgl. das Kooperationsverhältnis zwischen
EuGH und BVerfG ▶ Abschn. 4.2).
Mit Urteil vom 30. Juni 2005 hat der EGMR in der Rechtssa- Bosphorus-Rechtsprechung
che Bosphorus (NJW 2006, 197) das Problem der doppelten
Rechtsbindung im Sinne einer Solange-Rechtsprechung (▶ Ab-
schn. 4.2) gelöst. Danach verletzt ein MS die EMRK nicht, so-
lange er Rechtsakte einer internationalen Organisation wie der
EU befolgt, wenn diese Organisation einen dem EMRK-Stan-
dard vergleichbaren (nicht identischen!) Grundrechtsschutz
gewährleistet. Das EU-Recht erfüllt diese Voraussetzung in der
Regel. Im Ergebnis müsste ein Beschwerdeführer vortragen,
dass der Schutz der EMRK offensichtlich mangelhaft von der
EU durchgeführt würde, um eine erfolgreiche Beschwerde ein-
legen zu können.
Eine der weitreichenden Zukunftsfragen ist auch das Verhältnis EMRK – EU-Grund-
Verhältnis der in der EMRK gewährten Rechte zu den rechte
EU-Grundrechten der EU-Grundrechtecharta (GC ▶ Ab- Gericht = Gericht der EU,
schn. 4.3). Viele Rechte der GC sind mit der EMRK zumindest Art. 19 EUV
teilidentisch. Die entscheidende Vorschrift ist die Transfer-
klausel des Art. 52 III GC, wonach den in GC und EMRK
identischen Rechten die gleiche Tragweite zugemessen wird
wie den in der EMRK enthaltenen. Folglich ist die Recht-
sprechung des EGMR in seiner jeweils aktuellen Fassung für
die Bestimmung der identischen Rechte zu berücksichtigen
(dynamische Verweisung). Diese Lösung gewährleistet die
Vermeidung von Unterschieden in der Rechtsprechung von
EGMR und EuGH. Die gewährleistete Kohärenz ist jedoch
nicht mehr gesichert, wenn das Recht der Union einen weiter-
gehenden Schutz gewährt, Art. 53 II 2 GC, wobei zu berück-
sichtigen ist, dass der EMRK-Standard die Untergrenze auf
jeden Fall die Untergrenze des Grundrechtsschutzstandards
darstellt. Sinn der Klausel ist die Betonung der Selbständig-
keit des Unionsrechts.
Die Zusammenschau der Vorschriften führt zu einer drei-
fachen Günstigkeit für den EU-Bürger: Ihm stehen im Verhält-
nis zur EU zum einen die Unionsgrundrechte, zum anderen
die EMRK und drittens noch die Grundrechte der Mitglied-
staaten zur Verfügung, wobei jeweils das höchste Schutzniveau
anzuwenden ist.