Page 53 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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3.2 • Die EMRK
diesen wegen ihrer Bedeutung einen quasi-Verfassungsrang zu
(BVerfGE 111, 307 – Görgülü). Ansonsten würde das Rechts- Görgülü-Rechtsprechung
staatsprinzip (Art. 20 III GG) seitens deutscher Staatsorgane
verletzt. Danach ist eine Verfassungsbeschwerde zulässig,
wenn ein deutsches staatliches Organ eine Konventionsbe-
stimmung oder eine Entscheidung des EGMR missachtet oder
nicht berücksichtigt (vgl. BVerfGE 111, 307/328 ff.). Hierbei
sind die Gerichte verpflichtet, bei der Auslegung der einschlä-
gigen Konventionsbestimmungen die Rechtsprechung des
EGMR zu berücksichtigen, weil sich in ihr der aktuelle Ent-
wicklungsstand der Konvention und ihrer Protokolle nieder-
schlägt. Urteile, die gegenüber anderen Vertragsstaaten ergan-
gen sind, binden zwar nicht die Bundesrepublik Deutschland
(vgl. Art. 46 EMRK). Der Auslegung der Konvention durch
den Gerichtshof ist jedoch über den entschiedenen Einzelfall
hinaus eine normative Leitfunktion beizumessen, an der sich
die Vertragsparteien zu orientieren haben (vgl. BVerfGE 111,
307 /320; BVerwGE 110, 203/210). So sind die vom EGMR in
seiner Abwägung berücksichtigten Aspekte in die rechtliche
Würdigung, namentlich in die Verhältnismäßigkeitsprüfung,
einzubeziehen und es hat eine Auseinandersetzung mit den
vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen statt-
zufinden. Zu beachten ist, dass das BVerfG nur über Verfas-
sungsrecht entscheiden kann, eine Stellung, die dem Recht der
EMRK gerade nicht zukommt. Dennoch werden die Rechte
der EMRK durch ihr Hineinlesen in die Grundrechte juristisch
aufgewertet und erhalten einen verfassungsähnlichen Status.
In anderen Mitgliedstaaten kann die EMRK einen anderen
Rang in der Rechtsquellenhierarchie einnehmen, je nachdem,
an welcher Stelle das nationale Recht die völkerrechtlichen
Verträge einordnet. In Österreich kommt ihr Verfassungsrang
zu, in den Niederlanden ein Übergesetzesrang, d. h., sie steht
zwischen der Verfassung und den Gesetzen. Spätere Gesetze
können dann nicht die sich aus der EMRK ergebenden Ver-
pflichtungen ändern.
In Einzelfällen sind die Bestimmungen der EMRK/ZP als
eine Kodifizierung von Völkergewohnheitsrecht anzusehen.
Hierzu zählen z. B. das Folterverbot des Art. 3 EMRK oder
das Sklavereiverbot, Art. 4 EMRK. In diesem Fall gelangt der
Inhalt dieses Rechtssatzes, der auch in der EMRK/ZP steht,
über Art. 25 GG nochmals ins Grundgesetz und geht laut
Art. 25 S. 2 GG rangmäßig den Bundesgesetzen vor!
In der Bundesrepublik wird die EMRK leider auch von hö-
heren Gerichten bisweilen stiefmütterlich behandelt, und die
Prüfung des Sachverhaltes anhand der EMRK folgt erst nach
der Prüfung des deutschen Rechts, sozusagen unter „ferner
liefen“, obwohl sie Gesetzen gleichrangig ist. Dies ist zum ei-