Page 70 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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64   Kapitel 3  •  Der Europarat und die EMRK



                                     Art. 1 ZP I
                                     (1) Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Ach-
   2                                 tung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen
                                     werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt,
                                     und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen
   3                                 Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.
                                     (2) Absatz 1 beeinträchtigt jedoch nicht das Recht des Staates,
                                     diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der
                                     Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininter-
                                     esse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern oder sonstigen
                                     Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.


          Dreifacher Eigentumsschutz  Die erste Vorschrift in Absatz 1 Satz 1 ist allgemein und be-
                                  stimmt den Grundsatz der Achtung des Eigentums. Absatz
                                  1  Satz  2 betrifft den  Eigentumsentzug,  der nur  unter be-
                                  stimmten, festgelegten Voraussetzungen möglich ist. Zu den
                                  einschlägigen allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts siehe
                                  Lorenzmeier, Völkerrecht, 3. Aufl. 2016, Abschn. 2.2.4. Artikel
                                  1 Absatz 2 gibt den Vertragsstaaten unter anderem die Befug-
                                  nis, den Gebrauch von Vermögenswerten entsprechend dem
                                  Allgemeininteresse zu regeln. Zu beachten ist, dass die zweite
                                  und dritte Vorschrift im Lichte des im ersten Satzes von Arti-
                                  kel 1 genannten Grundsatzes auszulegen sind (Wittek, EGMRE
                                  2002-X, 43, Rz. 41).
                                     Der Begriff „Eigentum“ in Art. 1 ZP I besitzt eine auto-
   2      Eigentum                nome Bedeutung, die nicht auf das Eigentum an körperlichen
                                  Gegenständen beschränkt ist. Bestimmte andere Rechte und
   2                              Interessen, die Aktiva darstellen, können ebenfalls als Eigen-
                                  tumsrechte gelten und somit als „Vermögenswerte“ im Sinne
   2                              der Bestimmung gelten, wie z. B. einredefreie Forderungen,
                                  geistiges Eigentum, der Kundenstamm eines Unternehmens
                                  oder Pensionsansprüche. Die im Falle einer Enteignung zu
   2                              zahlende Entschädigung muss den Wert des entzogenen
                                  Eigentums wiedergeben. Bei Grundstücken ist auf den ob-
   2                              jektiven Marktwert abzustellen. Eine Eigentumsentziehung
                                  durch Inflation wird dann angenommen, wenn es aufgrund
   2                              hoher Inflationsraten zu einer Entwertung der zugesproche-
                                  nen Entschädigungssumme kommt und die Dauer des Ent-
                                  schädigungsverfahrens als zu lange angesehen werden muss.
   2                              Auch die dem deutschen Rechtssystemen unbekannte fakti-
                                  sche Eigentumsstellung, wie das längere illegale Wohnen auf
   2                              einer Mülldeponie, kann dem Eigentumsschutz unterfallen,
                                  sobald es ein substantielles wirtschaftliches Interesse beinhal-
                                  tet (Öneryildiz, Urt. v. 18. Juni 2002, Rz. 142). Der Schutz des
   2                              Eigentums umfasst auch eine positive Gewährleistung, durch
                                  Nichttätigwerden kann der Staat eine geschützte Rechtsposi-
                                  tion verletzen.
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