Page 66 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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60   Kapitel 3  •  Der Europarat und die EMRK


                                  widerstreitenden Positionen sind im Rahmen des bestmög-
                                  lichen Ausgleichs, einer teleologischen Auslegungsmethode,
                                  miteinander zu harmonisieren. Neben Art. 2 1. ZP schützt
   2                              Art. 8 EMRK das Erziehungsrecht als Bestandteil des Fami-
                                  lienlebens, wobei Art. 2 1. ZP in seinem Anwendungsbereich
   3                              lex specialis ist.
          Recht auf freie Wahlen     Das Recht auf freie Wahlen, als in Art. 3 1. ZP nieder-
                                  gelegtes politisches Recht auf Ausübung der Persönlichkeit,
                                  sichert die von der Konvention gewährleisteten Freiheiten de-
                                  mokratisch ab. Gesichert wird das aktive und passive Wahl-
                                  recht und das Recht, dass Wahlen in festen und angemessenen
                                  Abständen stattfinden. Trotz des fehlendes Einschränkungs-
                                  vorbehalts ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift („unter
                                  Bedingungen abzuhalten“), dass Art. 3 1. ZP kein absolutes
                                  Recht ist.
          Gedanken-, Gewissens- und   Art. 9 EMRK schützt mehrere miteinander verbundene
          Religionsfreiheit, Art. 9  Tätigkeiten.


                                     Art. 9 I EMRK
                                     (1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und
                                     Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion
                                     oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Reli-
                                     gion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen
                                     öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, oder Prakti-
                                     zieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.
   2

   2      Ein Kriegsdienstverweige-  Der Schutzbereich von Art. 9 I EMRK ist weit zu verstehen.
          rungsrecht lässt sich aus der   Die Gedankenfreiheit umfasst beispielsweise das Recht von
   2      EMRK nicht herleiten.   Schülern auf einen indoktrinations- und ideologiefreien Un-
                                  terricht. Die Glaubensfreiheit wirkt positiv und negativ. Jeder-
                                  mann darf seinen Glauben ausüben; geschützt ist aber auch das
   2                              Recht, keiner Glaubensgemeinschaft anzugehören, insbeson-
                                  dere keiner Staatskirche. Eine Staatskirche als solche ist nicht
   2                              verboten. Berechtigte sind nicht nur Einzelpersonen, sondern
                                  auch Kirchen und religiöse Gruppierungen. Zu den typischen
   2                              Eingriffen gehören die Zwangsteilnahme am Religionsunter-
                                  richt, das Verbot des Schächtens oder des Kopftuchtragens und
                                  Sanktionen bei der Wehrdienstverweigerung aus Gewissens-
   2                              gründen. Zur Lösung ist Art. 4 III lit. b EMRK heranzuziehen,
                                  der die Anwendbarkeit der Vorschrift des Art. 4 EMRK auf
   2                              Dienstpflichten verneint. Ein genereller Ausschluss der Wehr-
                                  pflicht aus dem Schutzbereich anderer Normen kann hierin
                                  nicht gesehen werden.
   2                                 Die Rechtfertigungsgründe finden sich wiederum in Ab-
                                  satz 2 der Vorschrift.
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