Page 67 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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3.2 • Die EMRK
Art. 9 II EMRK
(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu be-
kennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die
gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft
notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der
öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutze
der Rechte und Freiheiten anderer.
Der EGMR hat das Kopftuchverbot für Lehrer als rechtmä- Kopftuchverbot
ßig angesehen, wenn die Schüler aufgrund ihres jungen Alters
(im Fall zwischen vier und acht Jahren) religiös leicht beein-
flussbar sind (Dahlab, 2001, EGMRE 2001-V, 447). Auch das
früher in der Türkei geltende Kopftuchverbot in Universitäten
überschritt den mitgliedstaatlichen Beurteilungsspielraum
nicht (Sahin u. a., EuGRZ 2006, 28). Auch ein Schulausschluss
wegen Tragen des Kopftuches ist nicht unverhältnismäßig
(Dogru, Urt. v. 4. 12. 2008). Eine generelle Grenzziehung er-
scheint nicht möglich, es ist wiederum, unter Beachtung des
staatlichen Beurteilungsspielraums, eine Einzelfallabwägung
vorzunehmen, welche sich an den durchaus unterschiedlichen
Voraussetzungen in den einzelnen Mitgliedstaaten der EMRK
zu orientieren hat.
Zu den Kommunikationsgrundrechten gehören die Art. 10 Meinungsäußerungs- und
und 11 EMRK, wobei die Meinungsäußerungsfreiheit die indi- Versammlungs- und Vereini-
viduelle Kundgabe und die Versammlungs- und Vereinigungs- gungsfreiheit, Art. 10, 11
freiheit die kollektive Kundgabe von Meinungen schützen. Meinung und deren Ver-
Beide Rechte sind in der Konvention analog ausgestaltet, so breitung ist geschützt.
dass sie hier zusammen dargestellt werden können.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes
zählt die Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 10 I 1 EMRK
zu den grundsätzlichen Verbürgungen einer demokratischen
Gesellschaft (UII, EGMRE 2002-II, 271, Rz. 34), so dass nicht
nur die Substanz der Meinung geschützt ist, sondern auch
die Art der Verbreitung. Die Konvention definiert den Be-
griff der „Meinung“ nicht. Unter Heranziehung einer weiten
Auslegung sind, anders als bei Artikel 5 GG, Wert- und Tatsa-
chenurteile dem Schutzbereich zu unterwerfen. Wie aus dem
englischen Text („freedom to hold opinions“) folgt, ist nicht
nur die Kommunikation einer Meinung geschützt, sondern
auch deren Bildung, ein sehr weitgehender Meinungsbegriff.
Ein Eingriff ist vereinbar mit Artikel 10 EMRK, wenn er ge-
setzlich vorgesehen ist, eines der in Absatz 2 der Vorschrift
genannten Ziele verfolgt wird und in einer demokratischen
Gesellschaft notwendig ist. Diese Merkmale sind als Ausnah-
mebestimmungen eng auszulegen. Somit bedeutet „notwen-