Page 68 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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62 Kapitel 3 • Der Europarat und die EMRK
dig“ in Art. 10 II EMRK das Vorhandensein eines dringenden
gesellschaftlichen Bedürfnisses. Dazu gehört u. a. das Bestre-
ben eines Staates, zu einem anderen Staat freundschaftliche
2 und vertrauensvolle Beziehungen zu pflegen. Dennoch ist ein
Gesetz, welches jegliche Beleidigung ausländischer Staatsober-
3 häupter unter Strafe stellt als unverhältnismäßig anzusehen,
da diese Personen dann aufgrund ihrer Position jeglicher Kri-
tik entzogen werden (Columbani u. a., EGMRE 2002-V, 25,
Rz. 69).
Standesrecht für Rechtsan- Besondere Erwähnung verdienen die für Rechtsanwälte
wälte und Ärzte und Ärzte geltenden standesrechtlichen Bestimmungen. Hin-
sichtlich Rechtsanwälten entschied der Gerichtshof, dass ihre
zentrale Stellung in der Rechtspflege, zwischen der Bevölke-
rung und den Gerichten, standesrechtliche Beschränkungen
rechtfertigt (Nikula, EGMRE 2002-II, 291, Rz. 45). Bei dem
bestehenden Werbeverbot für Ärzte gelten andere Grund-
sätze. Ärztliche Standesregeln für das Verhalten gegenüber
der Presse, in der streitgegenständlichen Rechtssache ging
es um einen Presseartikel mit Werbewirkung für einen Arzt,
müssen mit dem berechtigten Interesse der Bevölkerung an
Aufklärung abgewogen werden und sind darauf zu beschrän-
ken, die Funktionsfähigkeit des Berufsstandes insgesamt zu
erhalten (Stambuk, NJW 2003, 497). Den Ärzten darf nicht
die unverhältnismäßige Last einer inhaltlichen Kontrolle von
2 Presseveröffentlichungen auferlegt werden. Insoweit können
auch Artikel, die für einen Arzt einen Werbeeffekt haben, mit
der Konvention vereinbar sein. Die entgegenstehende deutsche
2 Regelung stellte somit im konkreten Fall einen Verstoß gegen
Art. 10 EMRK dar, weil die Anwendung in unverhältnismäßi-
2 ger Weise geschah (Stambuk, s. o.).
Art. 11 EMRK gewährleistet Artikel 11 EMRK gewährleistet zwei Rechte, einerseits das
2 die Versammlungs- und die Recht sich mit anderen friedlich zu versammeln, andererseits
das Recht sich mit anderen zusammenzuschließen, dies um-
Vereinigungsfreiheit.
fasst auch die Koalitionsfreiheit. Die Rechte sind sowohl po-
2 sitiv, das Recht sich zusammenschließen zu dürfen, als auch
negativ, das Recht einer Vereinigung fernbleiben zu dürfen,
2 zu verstehen.
Vereinigungen sind alle auf Dauer angelegten, organisato-
risch verfestigten Zusammenschlüsse. Eine Beschränkung auf
2 Gewerkschaften, wie aus dem Wortlaut von Artikel 11 EMRK
geschlossen werden könnte, ist nicht gegeben. Anders als im
2 deutschen Grundgesetz umfasst die Vereinigungsfreiheit auch
den Zusammenschluss von Individuen zu Parteien. Die Ver-
einigungsfreiheit wird auch positiv gewährleistet; sie umfasst
2 eine Verpflichtung an die Mitgliedstaaten der EMRK, vor pri-
vaten Eingriffen in das Recht zu schützen. Beispielsweise ist es