Page 86 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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80   Kapitel 4  •  Die Europäische Union


                                  trägen die Organe der Union immer das verhältnismäßigste
                                  Mittel wählen müssen. Dies ist im Verhältnis Verordnung –
                                  Richtlinie nicht immer die Richtlinie, da die Souveränitäts-
   2                              schonung der MS nur einer der von der Union zu beachtenden
                                  Aspekte ist.
          Organ- und Sachkompetenz   Es kommt auch vor, dass eine Regelung auf mehreren
          Abgrenzung mehrerer Rechts-  Rechtsgrundlagen beruhen kann (Kommission/Rat, Slg.
          grundlagen              1989, 1425). Sind die Rechtsgrundlagen vom Verfahren her
   4                              identisch, d. h. gleiche Mehrheitserfordernisse, gleiche Parla-
                                  mentsbeteiligung etc., dann ist der Rechtsakt kumulativ auf alle
                                  einschlägigen Rechtsgrundlagen zu stützen. Sind die Rechts-
                                  grundlagen aber strukturell verschieden, also verlangt die eine
                                  etwa Einstimmigkeit im Ministerrat, die andere aber nur eine
                                  qualifizierte Mehrheit, dann ist die Rechtsgrundlage heran-
                                  zuziehen, auf die sich die Maßnahme im Schwerpunkt stützt
                                  (Tabakwerberichtlinie, Slg. 2000, I-8419).
          Implied Powers:            Eine Abrundung der durch die Einzelermächtigungen ge-
          den Verträgen innewohnende   gebenen EU-Kompetenzen stellt die Lehre von den „implied
          Kompetenzen             powers“ dar. Nach dieser vom EuGH in das Unionsrecht ein-
                                  geführten völkerrechtlichen/bundesstaatlichen Lehre stehen
                                  der EU neben den geschriebenen auch all jene Kompetenzen
                                  zu, die sie zur Erfüllung der ihnen gestellten Aufgaben benöti-
                                  gen, oder anders gesagt, ohne die die ausdrücklich enthaltenen
                                  EU-Kompetenzen sinnlos wären oder nicht vernünftig und
   2                              zweckmäßig angewandt werden könnten (FCB/Hohe Behörde,
                                  Slg. 1955/6, 312). Dieses Prinzip darf allerdings nicht extensiv
                                  ausgelegt werden (Demirel, Slg. 1987, 3719; Kramer, Slg. 1976,
   2                              1279).
                                     Ein Beispiel für implizierte Kompetenzen der Union ist
   2                              insbesondere im Bereich des Abschlusses völkerrechtlicher
                                  Verträge der EU (Stilllegungsfonds, Slg. 1977, 741) gegeben.
                                  Hier kann die EU auf der Grundlage des Gedankens der Pa-
   2                              rallelität von Innen- und Außenkompetenz, mit Blick auf die
                                  Funktionsfähigkeit der EU und auf die Einheitlichkeit des
   2                              EU-Rechts, ungeschriebene Kompetenzen wahrnehmen, siehe
                                  dazu Art. 216 I 2. Fall, Art. 3 II AEUV. Dazu gehören aber auch
   2                              interne Kompetenzen wie die Strafbewehrung einer Richtlinie
                                  mit Strafrechtsvorschriften, wenn diese zur effektiven Durch-
                                  setzung des Unionsrechts erforderlich sind (Umweltstrafrecht,
   2                              Slg. 2005, I-7879). Im deutschen Grundgesetz sind die Kom-
                                  petenz kraft Sachzusammenhang oder die Annexkompetenz
   2                              vergleichbar.
          Kompetenzergänzungsklausel  Dogmatisch streng von den implied powers zu trennen ist
                                  die Kompetenzergänzungsklausel des Art. 352 AEUV. Diese
   2                              wichtige Norm des AEUV wurde bereits in der Einleitung kurz
                                  angesprochen.
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