Page 91 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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          4.2  •  Zuständigkeiten der Union


          bindung mit Art. 4 III EUV und dem Grundsatz der einheitlichen
          Geltung und Anwendung des Unionsrechts. Dem AEUV ist eine
          Erklärung Nr. 17 zum Vorrang angehängt, die von Deutschland
          völkerrechtlich anerkannt wird.
          Das italienische Verstaatlichungsgesetz verstößt demnach gegen
          den EUV. Italien hat die Pflicht, die Verstaatlichung rückgängig zu
          machen. Aufheben darf der EuGH das nationale Gesetz nicht, dies
          liegt nicht in seiner Zuständigkeit. Die Konsequenz seiner Entschei-
          dung ist nur, dass das Gesetz nicht anwendbar ist. Das Gesetz ist auch
          nicht nichtig, oder quasi inexistent (Jongeneel Kaas, Slg. 1984, 483),
          sondern lediglich unionsrechtswidrig.

          Diese Form der Kollisionslösung nennt man auch den „An-  Anwendungsvorrang
          wendungsvorrang“ des Unionsrechts. Der Anwendungsvor-
          rang besteht generell gegenüber jeglichem innerstaatlichen
          Recht. Ein Geltungsvorrang, der für das nationale Gesetz die
          Nichtigkeit bedeuten würde, griffe unnötig weit in die nati-
          onalen Rechtsordnungen ein und ist den Kompetenzen des
          EuGH und der Kraft seiner Urteile nach dem EUV/AEUV
          nicht entnehmbar.
            Alle staatlichen Organe der Mitgliedstaaten sind ohne Aus-  Bindung aller staatlichen
          nahme durch das Unionsrecht gebunden. Sie sind nach dem          Organe
          EUV/AEUV verpflichtet, es anzuwenden und ohne weiteres
          den Vorrang zu beachten. Die Anwendungspflicht ist in der
          Praxis besonders wichtig für Behörden und Gerichte (Factor-
          tame I, Slg. 1990, I-2433).
            Problematisch ist der Anwendungsvorrang bei bestands-  Problem: bestandskräftige
          kräftigen Verwaltungsakten und Gerichtsentscheidungen.    Verwaltungsakte
          Behörden sind nur dann verpflichtet, (bestandskräftige) uni-
          onsrechtswidrige Verwaltungsakte zurückzunehmen, (1) wenn
          die Behörde nach nat. Recht befugt ist, die Entscheidung zu-
          rückzunehmen, (2) die Entscheidung infolge eines Urteils in
          letzter Instanz bestandskräftig geworden ist, (3) das Urteil auf
          einer unrichtigen Auslegung des Unionsrechts ohne Vorabent-
          scheidung des EuGH ergangen ist (der Betroffene muss sich
          dabei nicht vor dem nat. Gericht auf das Unionsrecht berufen),
          und (4) der Betroffene sich unmittelbar nach Kenntniserlan-
          gung an die Verwaltungsbehörde gewandt hat (Kühne&Heitz,
          Slg. 2004, I-837). Unmittelbar darf nicht zu kurz verstanden
          werden, dem Betroffenen muss eine angemessene Rechtsbe-
          helfsfrist mit Rücksicht auf den Grundsatz der Rechtssicherheit
          gewährt werden (Kempter, Slg. 2008, I-467).
            Die die Bestandskraft eines VA regelnden dt. Vorschriften   BVerfG und Vorrang
          sind grundsätzlich mit dem Unionsrecht vereinbar. (i-21 Ger-
          many & Arcor, Slg. 2006, I-8559). Das Rücknahmeermessen
          wird nicht durch das Effektivitätsprinzip auf Null reduziert
          (a. A. Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EGV, Rdnr. 42). Bei Ge-
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