Page 92 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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86   Kapitel 4  •  Die Europäische Union


                                  richtsentscheidungen ist die Sachlage wegen des auch unions-
                                  rechtlich anerkannten Grundsatzes der Rechtskraft anders zu
                                  beurteilen. Daraus folgt, dass Art. 4 III EUV nicht den Vorrang
   2                              des EU-Rechts vor rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen
                                  vorschreibt (Kapferer, Slg. 2006, I-2585), aber die äquivalente
                                  und effektive Anwendung des Unionsrechts weiter gewährleis-
                                  tet sein muss. Ein Anspruch aus Staatshaftungsrecht (▶ Ab-
                                  schn. 5.1.2) bleibt davon jedoch unberührt, dafür ist jedoch
   4                              ein offenkundiger Verstoß gegen das EU-Recht erforderlich
                                  (Köbler, Slg. 2003, I-10239).
                                     Aus der Sicht des deutschen Rechts ist die Rangfrage vom
                                  BVerfG in einer Reihe von Entscheidungen erörtert worden.
                                  Diese Rechtsprechung hat einen langen Entwicklungspro-
                                  zess durchgemacht, der im Jahr 1967 mit der „Verfassungsbe-
                                  schwerde gegen EWG-Verordnungen“, BVerfGE 22, 293, begann.
                                  Das Gericht führte in seiner Entscheidung dazu aus, dass ein
                                  Sekundärrechtsakt kein Akt der deutschen öffentlichen Gewalt
                                  sei und somit nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde
                                  beim BVerfG sein könne und von ihm nicht justitiabel sei.
          Solange I                  Berühmtheit erlangte der Solange I-Beschluss von 1974,
                                  BVerfGE 37, 271, dessen wichtigster Leitsatz lautet:
                                     „Solange der Integrationsprozeß  … nicht so  weit fortge-
                                  schritten ist, daß das [EWG-R]echt nicht auch einen … Katalog
                                  von Grundrechten enthält, der dem … des … [GG] adäquat ist,
   2                              ist … [nach Vorlage einer Sekundärrechtsnorm an d. EuGH bei
                                  Zweifeln eines nationalen Gerichts an ihrer Rechtmäßigkeit] die
                                  Vorlage [der Norm] eines Gerichts der Bundesrepublik … an das
   2                              .. .[BVerfG] im Normenkontrollverfahren [Art. 100 I GG] … ge-
                                  boten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vor-
   2                              schrift des … [EWG-R]echts für unanwendbar hält, … soweit sie
                                  mit einem der Grundrechte des … [GG] kollidiert.“
                                     Zur Begründung wurde herangezogen, dass mit der Ho-
   2                              heitsrechtsübertragung an die EWG gem. Art. 24, 59 II 1 GG
                                  nicht die Befugnis zu Eingriffen in deutsche Grundrechte
   2                              übertragen worden sei. Hatte also ein deutsches Gericht auf
                                  Vorlage an den EuGH die Gültigkeit einer Sekundärrechts-
   2                              norm bestätigt bekommen, wurde aber nach wie vor von Zwei-
                                  feln an der Vereinbarkeit der Norm mit den GG-Grundrechten
                                  geleitet, musste es demnach an das BVerfG vorlegen (Art. 100 I
   2                              GG, konkrete Normenkontrolle).
                                     Bis zu der Entscheidung „Solange  II“ vergingen noch
   2                              12 Jahre. In der Zwischenzeit drehte das BVerfG noch eine
                                  Pirouette in Form des  Vielleicht-Beschlusses, BVerfGE 52,
                                  187 (1979). In diesem Verfahren wurde dem Gericht gem.
   2                              Art. 100 I GG die Frage nach der Vereinbarkeit einer Primär-
                                  rechtsnorm mit den GG-Grundrechten gestellt. Das BVerfG
                                  verneinte seine Gerichtsbarkeit und erachtete die Vorlage für
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