Page 94 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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88   Kapitel 4  •  Die Europäische Union


                                  ist Art. 79 III GG, der die Aufgabe gewisser Grundstrukturen
                                  der Verfassung untersagt.
                                     Im Mangold-Beschluss (BVerfGE 126, 286) hat das BVerfG
   2                              seine Rechtsprechung zum ultra vires-Akten der EU präzisiert.
                                  Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts bestehe nur, soweit
                                  der EU nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung
                                  (▶ Abschn. 4.2) eine Kompetenz zukommt, bei ultra-vires-
                                  Handelns der EU sei er nicht gegeben (Mangold, Rn. 53 ff.).
   4                              Diese Feststellung eines ultra-vires-Handels werde seitens
                                  des BVerfG zurückhaltend ausgeübt, um das supranationale
                                  Integrationsprinzip nicht zu beschädigen, dem EuGH werde
                                  bei der Rechtsauslegung eine große Fehlertoleranz zugebilligt
                                  (Mangold, Rn. 66). Nach diesem Maßstab muss eine Handlung
                                  der EU-Organe ersichtlich außerhalb der übertragenen Kom-
                                  petenzen ergangen sein. Ersichtlich ist ein Verstoß, wenn die
                                  europäischen Organe und Einrichtungen die Grenzen ihrer
                                  Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzten Einzeler-
                                  mächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben,
                                  der Verstoß mithin hinreichend qualifiziert ist. Dies bedeutet,
                                  dass das kompetenzwidrige Handeln der EU offensichtlich
                                  ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen
                                  MS und EU im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Ein-
                                  zelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung er-
                                  heblich ins Gewicht fällt (Mangold, Rn. 61). Diese Sichtweise
   2                              wurde vom Gericht im berühmt gewordenen OMT-Beschluss
                                  (BVerfGE 136, 366 ff.), der ersten Vorlage des BVerfG an den
                                  EuGH gestärkt (dort Rn. 36 ff.).
   2                                 In dem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung (BVerfGE 125,
                                  266 ff.) macht das BVerfG überdies deutlich, dass Verfassungs-
   2                              beschwerden zulässig sein können, wenn die angegriffenen
                                  Vorschriften auf Richtlinienbestimmungen beruhen, die ei-
                                  nen zwingenden Inhalt haben (anders noch in BVerfGE 118,
   2                              79/98). In dem Vorratsdatenspeicherung-Urteil stellte das
                                  BVerfG u. a. fest, dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger
   2                              nicht total erfasst und registriert werden dürfe, dies gehöre zur
                                  verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutsch-
   2                              land. In seinem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des VvL bestä-

                                  tigt das BVerfG ausdrücklich die dargestellte Sichtweise, wobei
   2                              das BVerfG jedoch nunmehr neben der ultra vires-Kontrolle
                                  erweiternd eine auf Art. 23 I 3 GG i. V. m. Art. 79 III GG ba-
   2      Identitätskontrolle     sierende Identitätskontrolle vornimmt (BVerfGE 123, 267,
                                  400 ff.). Europäische Rechtsakte, die gegen diesen Standard
                                  verstoßen, sind innerstaatlich unbeachtlich. Ansonsten gilt der
   2                              Vorrang auch gegenüber entgegenstehendem Verfassungsrecht
                                  (BVerfGE 129, 78, 100) und führt im Konfliktfall zu dessen
                                  Unanwendbarkeit (BVerfGE 126, 286, 301). Die Kontrolle ist
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