Page 97 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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          4.3  •  Grundrechte und allgemeine Rechtsgrundsätze


          als Rechtsquelle haben die europäischen Gerichte die Grund-
          rechtecharta als Rechtserkenntnisquelle mit Bekräftigungs-
          funktion zur Bestimmung der primärrechtlich geschützten
          Grundrechte anerkannt (Parlament/Rat, Slg. 2006, I-5822;
          Jégo-Quéré, Slg. 2002, II-5137).
            Die Charta ist in 54 Artikel und sieben Kapitel gegliedert.
          Im Folgenden werden Aufbau und Inhalt der GrCh skizziert.

            Art. 51 GrCh – Anwendungsbereich
            (1) Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen
            Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und
            für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des
            Rechts der Union. […]


          Grundrechtsverpflichtete sind die in Art. 13 EUV aufgezählten   Verpflichtete und Bindung
          Organe der Union, die weit zu verstehenden Einrichtungen
          und sonstige Stellen der EU und die Mitgliedstaaten soweit
          sie EU-Recht durchführen. Durchführen liegt vor, wenn die
          zugrundeliegende Fallgestaltung unionsrechtlich geregelt ist,
          wenn sie nicht vom Unionsrecht erfasst ist, ist das Merkmal
          nicht gegeben. Unionsrechtlich geregelt ist sie, wenn die MS
          EU-Recht umsetzen (bei RL, bei VOen: durchführen) und
          wenn sie Grundfreiheiten einschränken. Grundrechtsträger
          können sich folglich gegen Rechtsakte der EU, etwa einen
          Kommissionsbeschluss oder eine Ratsverordnung, vor dem
          EuGH unter Berufung auf die Unionsgrundrechte zur Wehr
          setzen.
            Problematisch ist die bloße Berührung von Unionsrecht
          bei autonomem Handeln der MS. In einer frühen Entschei-
          dung hatte der EuGH den Anwendungsbereich der Charta
          sehr weit gezogen (Akerberg Fransson, C-617/10). Nach subs-
          tantieller Kritik (z. B. BVerfGE 133, 277, Antiterrordatei) hie-
          ran, hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung präzisiert: Der
          Anwendungsbereich ist nicht eröffnet, wenn das Unionsrecht
          nur mittelbar berührt wird. Eine Berührung ist demgegenüber
          immer gegeben, wenn Vorrang, Einheit und Wirksamkeit des
          EU-Rechts zu befürchten sind, berücksichtigungsfähige Fakto-
          ren sind ferner, ob eine spezifische Regelung für den speziellen
          Fall gegeben ist und ob eine mitgliedstaatliche Verpflichtung
          für den einschlägigen Sachverhalt besteht (EuGH, C-206/13,
          Siragusa, Rn. 25 f.).
            Kurz ein Exkurs: Wie ist die Situation, wenn EU-Bürger
          sich vor nationalen Gerichten gegen Verwaltungsakte, die von
          einer nationalen Behörde aufgrund EU-Rechts (etwa einer
          VO) erlassen wurden, wehren, also klagen oder sonstige Ge-
          genanträge stellen.
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