Page 95 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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          4.3  •  Grundrechte und allgemeine Rechtsgrundsätze


          jedoch zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben
          (BVerfGE 134, 366, 385 Rn. 27).
            Den Verstoß gegen die Identität des GG hat das BVerfG in
          einem Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14) in dem streit-
          gegenständlich die Auslieferung eines in Abwesenheit verur-
          teilten Amerikaners aufgrund eines europäischen Haftbefehls
          nach Italien war, ausdrücklich festgestellt. Die durch Art. 23 I
          3 i. V. m. Art. 79 III GG geschützten Rechtsgüter, zu denen u. a.
          die Menschenwürde gehört, können nicht relativiert werden,
          sie gelten absolut (Rn. 49). Das Gericht argumentiert, dass das
          Strafrecht auf dem Schuldgrundsatz basiere, welcher wiederum
          Bestandteil der Menschenwürdegarantie sei. Dieser Grund-
          satz sei gefährdet, wenn der wahre Sachverhalt aufgrund der
          Abwesenheit des Angeklagten nicht ermittelt werden könne
          (BVerfG Rn. 56 ff. m. w. N.). Nach italienischem Strafrecht war
          die erneute Beweisaufnahme ausgeschlossen, der Angeklagte
          hatte dort mithin keine Verteidigungsrechte mehr. Dies war
          nach der Ansicht des Gerichts mit der Menschenwürdegaran-
          tie unvereinbar und es hat die Auslieferung aufgrund des Eu-
          ropäischen Haftbefehls untersagt.
            In der Praxis müssen Verfassungsbeschwerden gemäß      Rügefähiger Inhalt
          Art. 93 I Nr. 4 a GG und Vorlagen nach Art. 100 I GG sub-
          stantiiert darlegen, dass der Europäische Rechtsakt mit den
          genannten Grundsätzen unvereinbar ist. Ansonsten ist z. B. die
          Verfassungsbeschwerde bei einer gerügten Grundrechtsverlet-
          zung bereits unzulässig. Verfassungsbeschwerden, die sich ge-
          gen die Anwendung von in diesem Sinne verbindlichem Recht
          der Europäischen Union richten, sind grundsätzlich unzulässig
          (vgl. BVerfGE 118, 79/95; 121, 1/15). Verfassungsbeschwerden
          bleiben jedoch in dem Bereich zulässig, der nicht EU-rechtlich
          determiniert ist (BVerfGE 121, 1/15). Wegen des Rechts auf
          effektiven Rechtsschutz, Art. 19 IV GG sind die deutschen Ge-
          richte jedoch verpflichtet, Unionsrecht an den Unionsgrund-
          rechten zu messen und ggf. ein Vorabentscheidungsverfahren
          nach Art. 267 AEUV (▶ Abschn. 6.10) durchzuführen.


          4.3   Grundrechte und allgemeine
               Rechtsgrundsätze


          Die Grundrechte des Unionsrechts werden in Art. 6 EUV ge-
          nannt.
            Laut Art. 6 I EUV „erkennt die Union die Rechte, Frei-  Grundfreiheiten sind keine
          heiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte   Grundrechte.
          der Europäischen Union v. 7.12.2000 in der am 12.12.2007 in
          Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind“. Die Charta
          besteht neben dem EUV als gleichberechtigter Vertrag, der von
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