Page 98 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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92   Kapitel 4  •  Die Europäische Union


          Zwei Rechtsquellen         Greifen dann EU- oder nationale Grundrechte? Hauptpro-
                                  blem ist, dass in einem solchen Fall zwei Rechtsquellen auf
                                  den Adressaten der Verordnung und des Verwaltungsaktes,
   2                              den EU-Bürger, wirken. Zum einen ordnet nämlich die EU-
                                  Verordnung konkret etwas an. Die Umsetzung und Durchset-
                                  zung (etwa: Erlass eines Verwaltungsakts) ist dann aber Sache
                                  des nationalen Rechts, da kein EU-weites Verwaltungsrecht
                                  besteht.
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                                  Ein Beispiel: Eine EU-Verordnung ordnet für das Jahr 2017 an, dass
                                  Weinbauern einen Teil ihres Ertrags destillieren, also zu hochpro-
                                  zentigem Alkohol verarbeiten müssen. Dies geschieht, um den
                                  Weinpreis zu stabilisieren. Jedem Weinbauern geht dann ein Be-
                                  scheid einer deutschen Behörde zu, weil die EU nur in Ausnahme-
                                  fällen eine eigene Verwaltung hat, die solche Bescheide erlässt
                                  (etwa im Kartellrecht). Der nationale Verwaltungsakt beruht for-
                                  mell auf deutschem Verwaltungsrecht. Materiell fußt er auf der
                                  EU-Verordnung. Wenn sich nun der Weinbauer gegen die Destil-
                                  lationsverpflichtung wehren will, so kann er nicht nur direkt vor
                                  dem EuGH gegen die Verordnung vorgehen, sondern kann sich
                                  auch nach deutschem Verwaltungsrecht gegen die Verordnung
                                  und den Bescheid wehren. Dies geschieht durch Widerspruch bei
                                  der Behörde bzw. durch Klage beim Verwaltungsgericht. Auch
                                  das nationale Gericht muss bei entsprechender Behauptung des
   2                              Weinbauern prüfen, ob durch den Bescheid seine Grundrechte
                                  verletzt sind, und zwar entweder durch das EU-Recht oder das na-
                                  tionale Verwaltungsrecht. Das nationale Gericht wendet das EU-
   2                              Recht wie nationales Recht an und muss es auch auslegen. Ist das
                                  nationale Gericht der Meinung, das dem Fall zugrunde liegende
   2                              EU-Recht sei EU-grundrechtswidrig, so muss es diese Frage dem
                                  EuGH vorlegen (Art. 267 AEUV). Aufheben darf es die Verordnung
   2                              nicht. Der EuGH entscheidet dann, ob die Verordnung rechtmäßig
                                  ist. Ist das nationale Gericht der Meinung, der Bescheid sei formell
                                  rechtswidrig, so hebt es den Bescheid auf. Gegen die Verordnung
   2                              selbst kann der Marktbürger nationale Grundrechte nicht ins Feld
                                  führen, diese gelten grundsätzlich nur gegen nationales Recht.
   2                              Das Problem ist eingekreist: Gegen die materielle Verordnung

                                  können nur EU-Grundrechte gelten, gegen den formellen na-
   2                              tionalen Vollzugsakt, den VA, nur deutsche Grundrechte.
          Entscheidend ist die richtige   -  Zu trennen ist also:
   2      Zurechnung.                 Wendet sich ein Marktbürger vor einem nationalen Ge-
                                     richt gegen den materiellen Inhalt der Verordnung selbst,
                                     so kann er nur EU-Grundrechte ins Feld führen.
   2                              -   Wendet er sich aber gegen einen Fehler des Vollzugsaktes
                                     nach nationalem Verwaltungsrecht, so gelten insoweit
                                     nationale Grundrechte.
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