Page 90 - Europarecht Schnell erfasst Auflage 5 (+13.01.2017)
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84 Kapitel 4 • Die Europäische Union
dige Gericht ist sich nicht sicher, wie die entsprechenden Artikel von
EUV und AEUV [das Urteil ist noch zum E[W]GV ergangen]auszulegen
sind, und legt dem EuGH gem. Art. 267 AEUV eine dementsprechende
2 Frage zur Auslegung vor.
Angenommen, das italienische Gesetz verstieße tatsächlich gegen
mehrere Normen des AEUV, welche Konsequenzen ergeben sich?
Die Kollision der Rechte wird nach gefestigter europäischer und
nationaler Rechtsprechung durch den prinzipiellen „Vorrang des
4 Unionsrechts“ gelöst. Der Vorrang wird in Rechtsprechung und
Wissenschaft auf verschiedene Theorien gestützt, die allerdings
teilweise nicht ganz schlüssig sind. Der EuGH geht davon aus,
dass der Vorrang des Unionsrechts kraft seiner Eigenständigkeit
besteht. Dazu formuliert der EuGH im Fall Costa/E.N.E.L:
„Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat
der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei sei-
nem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf-
genommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Denn
durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbestimmte Zeit, die
mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit
internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten,
aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder
der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Ge-
meinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die
Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Sou-
2 veränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen,
der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.
Diese Aufnahme der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in das
2 Recht der einzelnen Mitgliedstaaten und, allgemeiner, Wortlaut und
Geist des Vertrages haben zur Folge, dass es den Staaten unmöglich
2 ist, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit an-
genommene Rechtsordnung nachträglich einseitige Maßnahmen
2 ins Feld zu führen. Solche Maßnahmen stehen der Anwendbarkeit
der Gemeinschaftsrechtsordnung daher nicht entgegen. Denn es
würde eine Gefahr für die Verwirklichung der in Artikel 5 Absatz 2
2 aufgeführten Ziele des Vertrages bedeuten und dem Verbot des Ar-
tikel 7 widersprechende Diskriminierungen zur Folge haben, wenn
2 das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen
Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung
haben könnte …“ (Slg. 1964, 1269; Art. 5 ist nunmehr Art. 4 III EUV
2 und Art. 7 ist nunmehr Art. 18 AEUV).
Deutschland erkennt den Mit dieser ausführlichen Stellungnahme hat der EuGH den Vor-
2 Vorrang völkerrechtlich an. ranggrundsatz erstmals festgehalten. Er ist inzwischen in ständi-
ger Rechtsprechung bestätigt worden (Walt Wilhelm, Slg. 1969, 1;
2 Simmenthal II, Slg. 1978, 629; Tafelwein, Slg. 1990, I-2879). Im EUV/
AEUV ist die Rangfrage zwischen nationalem und Unionsrecht im
Gegensatz zum Verfassungsvertrag nicht ausdrücklich geregelt.
Die konkretesten Anhaltspunkte sind der Art. 288 AEUV in Ver-