Page 12 - Taschenbuch Michel Grassart, Abbè Pierre die Wahrheit...
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Dabei  musste  ich  wie  ein  Raubtier  auf  der  Lauer  sein,
         damit keine hungernden Hunde in der Nähe waren. Hat-
         te  oft  beobachtet,  wie  streunende  Hunde  immer  und
         immer wieder ein Kind mit sich nahmen, bevor es zerris-
         sen wurde. Der Leithund zog es – wie ein vorbeihuschen-
         der  Wind  –  an  den  Füssen  mit  sich.  Oft  wimmerte  das
         Kind,  aber  kurz  darauf  biss  ihm  der  Leithund  die  Kehle
         durch, und draußen auf dem Felde wurde es auf bestiali-
         sche Weise verspeist. Man hörte es dauernd bis zu unse-
         rem  Igloo,  dieses  furchtbare  Gerangel  und  Gejaule  um
         die Beute, wenn Schreie der noch lebenden Kinder in der
         Luft  lagen.  Das  Ganze  brannte  sich  sehr  tief  in  meine
         Seele ein. Wenn die Hunde auf der Jagd waren, hörte ich
         immer wieder ein Hecheln der Meute, da musste ich auf
         der Lauer sein. Oft rettete mich nur ein Sprung ins Igloo,
         und ich versuchte, mit meinen kleinen Füssen die Türe zu
         verkeilen. Spürte oft den Aufprall von Hunden, die mich
         gerne holen wollten. Keine Ahnung mehr, wie ich das als
         Kleinkind  geschafft  hatte,  die  Türe  zu  verbarrikadieren,
         denn  sie  hatte  keinen  Schlüssel,  an  das  mag  ich  mich
         noch erinnern. Aber nach Stunden, die mich oft fast das
         Bewusstsein  verlieren  ließen  auf  dem  kalten  Betonbo-
         den, des ewigen Kampfes und der inneren Unruhe, hörte
         ich meinen älteren Bruder oder meine Mama kommen.
         Da rief ich ihnen erlöst zu: passt auf, die Hunde wollen
         mich mitnehmen! Da wurden die Hunde von ihnen mit
         Steinen in die Flucht geschlagen, und wieder jaulten sie,
         denn  sie  mussten  ohne  Beute  verschwinden  und  hun-
         gern,  das  war  auch  das  Einzige,  was  uns  verband.  Oft
         erwachte  ich  aus  einer Bewusstlosigkeit  in  einem  Kran-
         kenwagen,  weil  mich  der  Hunger  so  geschwächt  hatte.
         Überall  waren  Schläuche,  und  ich  erwachte  aus  dem



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