Page 217 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Bande. 205
darin, dass, wenn das Kind einmal wirklich Aehnlichkeiten durch
Beobachtung erkennen soll, oder wenn es Vergleiche anstellen soll,
zu welchen mehr als ein bloßes Wiedererkennen gehört, es dazu
selbst in einem späteren Alter nicht fähig ist. Taine's Kiiabe
erlernte das Wort fleurs für Blumen ziemlich spät mit einer gewissen
Mühe, »eine Aehnlichkeit zwischen so verschiedenen Formen und
Farben herauszufinden«. Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, dass
die Aehnlichkeit der Blumen leichter zu erkennen ist, als die zwischen
einem Teiche und dem Wein im Wasserglase (S. 299). Eine ähn-
liche Beobachtung machte Ament (S. 23). Die Aehnlichkeit der
Blätter der übrigen Pflanzen mit denen des Grases wurde nicht
erkannt, ebenso nicht die Aehnlichkeit der Früchte untereinander.
Es ist sehr bezeichnend, dass diese von Ament geprüften Kinder
schon etwas älter waren als alle jene, deren Wortbedeutung wir
vorhin analysirt haben. Die älteren Kinder erkennen jene AehnHch-
keiten nicht, weil ihre Wahrnehmung in höherem Maße die Ver-
schiedenheit der Dinge erfasst (vergleiche auch die Beobachtung von
Egger, dass Kinder, die anfangen zu lesen, die früher erlernten
Buchstaben oft nicht wiedererkennen, wenn sie in einer ungewöhn-^
liehen Schriftart gedruckt sind).
Was die Unbestimmtheit der Wahrnehmungen betrifft, die ich im
Vorigen vorausgesetzt habe, so erhält diese eine indirecte Bestätigung
durch die statistischen Untersuchungen über den Vorstellungskreis
der neu eintretenden Schulkinder, welche von Bartholomäi, Hart-
mann, Bergmann, Seyfert und anderen veranstaltet worden sind.
Die Ungenauigkeit, mit der die sechsjährigen Kinder die Gegenstände
ihrer Umgebung beobachten, zwingt uns natürlich, den zwei- und
dreijährigen das denkbar geringste Maß von Analyse der Wahr-
nehmungsobjecte zuzuschreiben.
Ein weiterer indirecter Beweis für die Richtigkeit meiner Auf-
fassung liegt darin, dass alle diejenigen physischen Leistungen, welche
einen höheren Grad von Abstraction beim Kinde voraussetzen, erst
spät eintreten; dahin gehört die Büdung der Zahlbegriffe, die Classi-
fication und die Subsumption (vgl. die Beobachtungen von Ament ü,
23 ff.).