Page 218 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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          6. Einige besonders schwierige Fälle erster Wortbedeutungen
                                  des Kindes.
          Man beobachtet nicht selten, dass Kinder in den ersten Anfängen
       ihrer Sprachentwicklung "Wortbedeutungen bilden, die scheinbar sehr
       abstracten Charakter tragen und bei denen Objecte oder namentlich
       Vorgänge nach solchen gemeinsamen Merkmalen unter einem Worte
       zusammengefasst  erscheinen,  welche  selbst  für den Erwachsenen
       schwierig zu beobachten sind.
          Die Kinder scheinen manchmal sogar an sehr verschiedenartigen
       Vorgängen solche gemeinsamen Merkmale zu entdecken, die der Er-
       wachsene erst durch Reflexion zu erwerben pflegt und die gar nicht
       der bloßen Wahrnehmung zugänglich scheinen.     Eine Folge  dieser
       scheinbaren Entdeckung gemeinsamer Merkmale in heterogenen Vor-
       gängen ist die, dass die Kinder manchmal Klassenbegriffe zu bilden
       scheinen, in welchen die Gegenstände oder Vorgänge nach Gesichts-
       punkten zusammengefasst werden, die dem Erwachsenen ungewöhnlich
       sind. Preyer's Knabe bezeichnet  z. B. mit atta (haatta), vom elften
       bis zum fünfzehnten Monat einschließlich, das Weggehen einer Person,
       das Verdunkeln der Flamme durch einen Lampenschirm, das Auf-
       und Zumachen der Thüre, das Herabfallen eines Gegenstandes vom
       Tisch und das Verschwinden eines Gegenstandes überhaupt. Frey er
       hält es für unzweifelhaft, dass das Kind die Aehnlichkeit in so ver-
       schiedenen Vorgängen erkennt.  Es habe durch Abstraction des ge-
       meinsamen Merkmals dieser Vorgänge einen Begriff gebildet.   »Es
      vereinigt Merkmale zu Begriffen« und  »die Begriffsbildung ist nicht
      allein  längst  da,  sondern auch  die Bezeichnung  des Begriffs mit
      Silben«  (S. 323).  Eine ganz ähnliche Beobachtung theilte mir Herr
      Professor Bovet in Zürich mit.   Sein Knabe benannte ungefähr in
       demselben Alter wie derjenige Preyer's alle Vorgänge des Auf- und
      Zudeckens,  des Wegnehmens und Verschwindens     u. s. w. mit dem
      Lallworte mü.   Eine ähnliche Beobachtung machte Tracy.       Sein
      Kind erlernte das Wort do (door). Es wandte dasselbe an »to every
      thing that stopped up an opening or prevented an exit including the
      cork of a bottle and the little table that fastened him in his high
      chair«.  Aehnlich verhält es sich mit dem Beispiel, welches Taine
       (S. 300) mittheilt.  Sein Kind bezeichnete mit hMames (helles dames)
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