Page 448 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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436 ^' Vierkandt.
Gesammtheit sich in den in Betracht kommenden festen Geleisen der
Cultur ohne Ausnahme und ohne Widerspruch bewegt, wie z. B. bei
den meisten Sitten, den herrschenden moralischen, politischen, religiösen
Anschauungen u. s. w. Die fortgesetzte Häufung entweder zustimmen-
der oder dissentirender Meinungsäußerungen muss wegen der damit
verknüpften Gefühlswirkungen schließHch eine suggestive Bedeutung
für den Einzelnen gewinnen. In demselben Sinne wirkt aber negativ
auch, falls der Einzelne Neigung zur Auflehnung gegen eine Cultur-
form in sich verspürt, der Gedanke an die Häufung der Widersprüche
und an die damit verknüpfte fortgesetzte Belästigung — eine Einwirkung,
auf die wir schon oben hingewiesen und für die wir dort als klassisches
Beispiel ein bekanntes Wort des Vicar of Wakefield angeführt haben.
Die hier besprochenen Erscheinungen der Suggestion, sowie die vor-
hin erwähnten Thatsachen des Unterordnungstriebes, welche letzteren
zum Theil ja auf jene zurückweisen, sind ganz besonders geeignet, uns
über die Natur des Gehorsams aufzuklären, ohne den keine Cultur
und Gesellschaft, ja überhaupt keine Vereinigung bestehen kann. Es
gibt wahrscheinlich in der ganzen Welt keine einzige Disciplin, die
allein oder auch nur vorwiegend durch die Furcht aufrecht erhalten
wird. Die wahren, statt dessen hauptsächlich in Betracht kommenden
Kräfte bestehen zwar in den sämmtlichen hier der Reihe nach be-
trachteten Factoren. Vorzüglich lehrreich aber sind die beiden eben
genannten, weil ihre Wirkungen vom unerfahrenen Beobachter am
ehesten mit denjenigen der bloßen Furcht verwechselt werden können.
Wie wenig die letztere ausschlaggebend ist, beweist übrigens der
anarchische Zustand so vieler primitiver Stämme, bei denen fast nur
innere Kräfte das Ganze zusammenhalten. Tarde weist mit Recht
darauf hini) wie sehr auch der Gehorsam, den große Eroberer im
Stile Alexanders des Großen oder Napoleons I. gefunden haben, auf
solchen inneren Wirkungen beruht. Und seiner Annahme, dass
überall bei den Ursprüngen der CiviHsationen solche Kräfte maß-
gebend gewesen seien, vermögen wir nur deswegen nicht beizustimmen,
weil uns die Existenz solcher Heroen zu jener Zeit nicht gesichert
genug erscheint.
1) Tarde, Les lois de rimitation, 2 p. 87.