Page 448 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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       Gesammtheit sich in den in Betracht kommenden festen Geleisen der
       Cultur ohne Ausnahme und ohne Widerspruch bewegt, wie    z. B. bei
        den meisten Sitten, den herrschenden moralischen, politischen, religiösen
       Anschauungen u.  s. w.  Die fortgesetzte Häufung entweder zustimmen-
       der oder dissentirender Meinungsäußerungen muss wegen der damit
       verknüpften Gefühlswirkungen schließHch  eine suggestive Bedeutung
       für den Einzelnen gewinnen.  In demselben Sinne wirkt aber negativ
       auch, falls der Einzelne Neigung zur Auflehnung gegen eine Cultur-
       form in sich verspürt, der Gedanke an die Häufung der Widersprüche
       und an die damit verknüpfte fortgesetzte Belästigung — eine Einwirkung,
       auf die wir schon oben hingewiesen und für die wir dort als klassisches
       Beispiel ein bekanntes Wort des Vicar of Wakefield angeführt haben.
           Die hier besprochenen Erscheinungen der Suggestion, sowie die vor-
       hin erwähnten Thatsachen des Unterordnungstriebes, welche letzteren
       zum Theil ja auf jene zurückweisen, sind ganz besonders geeignet, uns
       über die Natur des Gehorsams aufzuklären, ohne den keine Cultur
       und Gesellschaft, ja überhaupt keine Vereinigung bestehen kann. Es
        gibt wahrscheinlich in der ganzen Welt keine  einzige Disciplin,  die
        allein oder auch nur vorwiegend durch die Furcht aufrecht erhalten
       wird.  Die wahren, statt dessen hauptsächlich in Betracht kommenden
        Kräfte bestehen zwar in den sämmtlichen hier der Reihe nach be-
        trachteten Factoren.  Vorzüglich lehrreich aber sind die beiden eben
        genannten, weil  ihre Wirkungen vom unerfahrenen Beobachter am
        ehesten mit denjenigen der bloßen Furcht verwechselt werden können.
        Wie wenig die  letztere ausschlaggebend  ist,  beweist  übrigens  der
        anarchische Zustand so vieler primitiver Stämme, bei denen fast nur
        innere Kräfte das Ganze zusammenhalten.   Tarde  weist mit Recht
        darauf hini) wie sehr auch der Gehorsam, den große Eroberer im
        Stile Alexanders des Großen oder Napoleons  I. gefunden haben, auf
        solchen  inneren  Wirkungen  beruht.  Und  seiner Annahme,   dass
        überall bei den Ursprüngen  der CiviHsationen  solche Kräfte maß-
        gebend gewesen seien, vermögen wir nur deswegen nicht beizustimmen,
        weil uns  die Existenz solcher Heroen zu jener Zeit nicht gesichert
        genug erscheint.



           1) Tarde, Les lois de rimitation,  2 p. 87.
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