Page 451 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Gründe für die Erhaltung der Cultur.
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     keit besitzen wie vielfach Edelsteine, Alterthümer, Raritäten u. ä. Der
     sachliche Werth  tritt hier vor dem subjectiven  vollständig  in den
     Hintergrund, und dieser beruht  offenbar auf derselben  steigernden
     Wechselwirkung von Schätzen und Erstreben.
         Diese selbe Wechselwirkung kommt nun allgemein für die Erhal-
     tung bestimmter Culturgiiter in Betracht; nänüich vorzüglich für die-
     jenige der Sitten, der wirthschaftUchen und technischen, der pohti-
     schen und socialen Zustände, der niederen und höheren Berufsarten
     und auch des religiösen Rituals.  Eine Sitte  z. B. befolgt der Einzelne,
     weil  die anderen es von ihm erwarten; und diese erwarten es von
     ihm, weil sie die Sitte überall bei den betreffenden Anlässen befolgt
     sehen. Der Handwerker arbeitet nach einer ganz bestimmten Schablone,
     weil das Publicum es von ihm verlangt, und dieses verlangt es, weil
     es das Handwerk sich immer in    dieser bestimmten Bahn bewegen
     sieht.  Eine ähnliche Wechselwirkung zwischen dem Künstler und
     dem Publicum erhält bestimmte   Stilarten.  Allgemein können  wir
     die hier in Rede stehende Erscheinung auf die Formel bringen: der
     Handelnde benimmt sich gemäß der Erwartung der Zuschauer, und
     die ErvN^artung der Zuschauer richtet sich nach dem Benehmen des
     Handelnden. Wir beobachten hier eine Kreisbewegung von der denk-
     bar größten Vollkommenheit; wir sehen die Culturformen hier in einen
     Zirkel gebannt, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. An dieser
     Stelle wird es uns recht deutHch, wie sehr die subjectiven Gründe die
     sachlichen bei der Erhaltung der Culturgüter an Bedeutung übertreffen.
        Bei der hier betrachteten Wechselwirkung   sind die Rollen  des
     Zuschauers und Handelnden zum Theil     auf verschiedene Personen
     vertheilt.  Als Zuschauer kommen zwar alle Individuen in Betracht,
     hinsichtHch der Handelnden jedoch finden vorzüglich zwei Einschrän-
     kungen  statt.  Erstens verhält  sich  die Jugend, wie vorhin schon
     erörtert, vorwiegend receptiv;  sie  sättigt sich in der Rolle der Zu-
     schauer zunächst mit den Eindrücken, welche die vorhandenen Cultur-
     formen auf  sie ausüben, verwächst so innerlich ganz und gar mit
     ihnen, ehe  sie selbst dann als Schauspieler auf die Bühne  tritt, um
     diejenige Rolle zu spielen, mit der sie inzwischen innerHch verschmolzen
          Eine zweite Einschi'änkung bildet der Beruf bei allen denjenigen
     ist.
     Culturgütem, für deren Erhaltung nur bestimmte Berufsarten in Be-
     tracht kommen.
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