Page 451 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 451
Die Gründe für die Erhaltung der Cultur.
439
keit besitzen wie vielfach Edelsteine, Alterthümer, Raritäten u. ä. Der
sachliche Werth tritt hier vor dem subjectiven vollständig in den
Hintergrund, und dieser beruht offenbar auf derselben steigernden
Wechselwirkung von Schätzen und Erstreben.
Diese selbe Wechselwirkung kommt nun allgemein für die Erhal-
tung bestimmter Culturgiiter in Betracht; nänüich vorzüglich für die-
jenige der Sitten, der wirthschaftUchen und technischen, der pohti-
schen und socialen Zustände, der niederen und höheren Berufsarten
und auch des religiösen Rituals. Eine Sitte z. B. befolgt der Einzelne,
weil die anderen es von ihm erwarten; und diese erwarten es von
ihm, weil sie die Sitte überall bei den betreffenden Anlässen befolgt
sehen. Der Handwerker arbeitet nach einer ganz bestimmten Schablone,
weil das Publicum es von ihm verlangt, und dieses verlangt es, weil
es das Handwerk sich immer in dieser bestimmten Bahn bewegen
sieht. Eine ähnliche Wechselwirkung zwischen dem Künstler und
dem Publicum erhält bestimmte Stilarten. Allgemein können wir
die hier in Rede stehende Erscheinung auf die Formel bringen: der
Handelnde benimmt sich gemäß der Erwartung der Zuschauer, und
die ErvN^artung der Zuschauer richtet sich nach dem Benehmen des
Handelnden. Wir beobachten hier eine Kreisbewegung von der denk-
bar größten Vollkommenheit; wir sehen die Culturformen hier in einen
Zirkel gebannt, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. An dieser
Stelle wird es uns recht deutHch, wie sehr die subjectiven Gründe die
sachlichen bei der Erhaltung der Culturgüter an Bedeutung übertreffen.
Bei der hier betrachteten Wechselwirkung sind die Rollen des
Zuschauers und Handelnden zum Theil auf verschiedene Personen
vertheilt. Als Zuschauer kommen zwar alle Individuen in Betracht,
hinsichtHch der Handelnden jedoch finden vorzüglich zwei Einschrän-
kungen statt. Erstens verhält sich die Jugend, wie vorhin schon
erörtert, vorwiegend receptiv; sie sättigt sich in der Rolle der Zu-
schauer zunächst mit den Eindrücken, welche die vorhandenen Cultur-
formen auf sie ausüben, verwächst so innerlich ganz und gar mit
ihnen, ehe sie selbst dann als Schauspieler auf die Bühne tritt, um
diejenige Rolle zu spielen, mit der sie inzwischen innerHch verschmolzen
Eine zweite Einschi'änkung bildet der Beruf bei allen denjenigen
ist.
Culturgütem, für deren Erhaltung nur bestimmte Berufsarten in Be-
tracht kommen.