Page 455 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Grunde für die Erhaltung der Cultur.
1) Primäre sachliche Gründe. Wir müssen hier wieder
zwischen berechtigten und unberechtigten Gründen unterscheiden.
Solange die letzteren lediglich auf zufälligen individuellen Yerirrungen
in der Schätzung beruhen, haben sie für uns natürlich kein Interesse.
Es gibt jedoch auch falsche Schätzungen von allgemeiner Häufigkeit
und typischem Charakter, ohne dass sie sich auf sociale Einflüsse
zurückführen lassen. Vorzüglich bei der Selbsterhaltung der religiösen
Systeme sprechen solche Einflüsse in hohem Maße mit. Jedes rehgiöse
System nämlich wird einerseits von seinen Anhängern so construirt,
übt anderseits auf diese solche Wirkungen aus, dass es auch für
den unbetheihgten Zuschauer, der den psychologischen Mechanismus
dieser Processe nicht zu überblicken vermag, seinen Wahrheitsbeweis
in sich zu tragen scheint. Wir gehen jedoch auf diese Dinge hier
nicht ein^), sondern beschränken uns auf einen kurzen UeberbHck
über die berechtigten primären sachhchen Gründe. Von ihnen
nennen wir zuerst den idealen Gehalt gewisser Culturgüter, d. h.
ihren Gehalt an logischen, ethischen und ästhetischen Werthen. Wie
weit dieser zum Fortbestehen der wissenschaftlichen Anschauungen,
der künstlerischen Richtungen, der sittlichen Normen, der Sitten und
des Rechtes beiträgt, bedürfte höchstens insofern einer weiteren Er-
örterung, als man davor warnen müsste, die Bedeutung dieses Mo-
mentes zu überschätzen. Auf diesen Punkt werden wir jedoch später
im Zusammenhang der abscliUeßenden Erörterung dieser ganzen
Untersuchung zurückkommen.
In zweiter Linie ist der Nutzen gewisser Culturgüter in Betracht
zu ziehen. Wir machen zunächst auf diejenige Art von Nutzen auf-
merksam, die man als einen imaginären bezeichnen könnte. Wir
meinen damit die religiöse Motivirung, welche, abgesehen vom rehgiösen
Ritual selber, so viele Sitten auf primitiven Stufen aufi-echt erhält.
Wir haben schon oben darauf hingewiesen, wie die Götter in der
Regel als besonders conservativ gedacht werden und demgemäß die
vorhandene gesellschaftliche Ordnung besonders zu schützen als ge-
eignet erscheinen. Ebenso umfassend ist die Stütze, welche aus dem
1) Skizzirt sind sie für die religiösen Systeme vom Verfasser in dem Aufsatz
>Die Selbsterhaltung der religiösen Systeme«. Vierteljahrsschrift für wissenschaft-
liche Philosophie und Sociologie. Bd. 26. S. 205—220.