Page 456 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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444 A- Vierkandt.
realen Nutzen der Erhaltung der Culturgüter erwächst. Vorzüglich
die Formen der Technik und der Wirthschaft und überhaupt aller
Berufsarten kommen dabei in Betracht. Vielfach lassen sich auch
die Erscheinungen des Rechts und der Sitte diesem Gesichtspunkte
unterordnen. Den Nutzen der einzelnen Sitten hat bekanntlich
Rudolf von Ihering scharfsinnig, wenn auch wohl etwas über-
treibend, indem er zu viel in die Dinge hineintrug, erörtert. Wir
weisen zur Erläuterung nur hin auf den Nutzen der Umgangsformen,
welche die einzelnen Mitglieder der G-esellschaft bändigen und gegen-
seitig vor Ausbrüchen der Rohheit schützen; auf den Werth der
Trauerkleidung, welche den Trauernden davor sichert, in unpassende
Situationen hineingezogen zu werden, und die Gesellschaft vor dem
peinlichen Schauspiel bewahrt, dass er sich in einer seiner Lage nicht
angemessenen "Weise benimmt; oder endlich an den Nutzen der Blut-
rache, die auf höheren Stufen vielfach da, wo ein ausgeprägter Rechts-
schutz des menschlichen Lebens noch nicht vorhanden ist, diesen
vermöge der Furcht vor Wiedervergeltung zu ersetzen im stände ist.
Handelt es sich in diesen Fällen um einen Nutzen für die ganze Ge-
sellschaft, so ist er in anderen Fällen auf diejenigen beschränkt, die
bei der Ausübung einer bestimmten Sitte in Betracht kommen. So
ist z. B. das Trinkgeldgeben zugleich dem Empfänger und auch, indem
es ihm eine aufmerksame Bedienung sichert, für den Gebenden vor-
theilhaft. Oder bestimmte umständliche Grußformen bei Naturvölkern
sichern die sich Begegnenden, indem sie wegen ihrer Umständhchkeit
eine genauere Orientirung gestatten, gegenseitig vor der Gefahr plötz-
lichen feindlichen Ueberfalles.
In manchen Fällen tritt an die Stelle des Nutzens auch die bloße
Annehmlichkeit für alle oder einen Theil der bei der Ausübung
der betreffenden Sitte in Betracht kommenden Personen. So in vielen
Fällen schon bei dem Trinkgeldgeben, so etwa bei der früheren Sitte
der Leichenschmäuse und bei allen Formen der Gastlichkeit, so auch
bei allen denjenigen Grussformen, die einen vorwiegend einseitigen
Charakter haben, indem sie vorzüglich Gefühle der Ehrerbietung oder
auch der Furcht gegenüber Mächtigen zum Ausdruck bringen.
2) Secundäre sachliche Gründe. Wir kommen jetzt zu den-
jenigen Fällen, in denen unsere Werthurtheile nicht der Natur der