Page 452 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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          12) DerRollenweclisel. Es handelt sich hierbei um den Druck,
       den die Gesammtheit auf den Einzelnen hinsichtlich der Befolgung
       gewisser Normen des Zusammenlebens, also vorzüglich gewisser Sitten,
       sittlicher und rechthcher Grebote  ausübt.  Die Anschauungen über
       das, was in einem solchen Fall geschehen  soll,  sind an sich bei der
       G-ruppe und bei dem Einzelnen  gleich, nur werden  sie bei diesem
       durch sein eigenes zuwiderlaufendes Interesse so sehr zurückgedrängt,
       dass  er ohne jenen Druck  oft  die socialen Normen nicht befolgen
       und  die Unterlassung vor  sich  selbst beschönigen würde, während
       umgekehrt die Gruppe, wenn sie ihn zur Befolgung drängt,  sittlich
       nicht höher  steht  als  er, sondern nur das Verdienst  einer von der
       CoUision entgegengesetzter Interessen befreiten Situation  hat.  Wir
       können dabei zwei Typen unterscheiden, je nachdem die Gruppe per-
       sönlich an der Befolgung der Normen uninteressirt oder interessirt
       ist.  Wir beginnen mit dem ersten Fall.  Hier steht die Gruppe als
       Zuschauer dem Einzelnen   als Handelnden   gegenüber.  Allgemein
       gilt dabei bekanntlich der Satz, dass der Zuschauer strenger urtheilt
       als der Handelnde über  sich  selbst.  Das  gilt  z. B. durchweg der
       Pflichterfüllung im täghchen Leben gegenüber. Der Einzelne ist viel
       geneigter,  bei etwaigen Colhsionen zwischen der Pflicht und wider-
       streitenden Interessen  sich vor  sich  selbst zu entschuldigen und zu
       rechtfertigen.  Der  sittliche Antrieb, den er auf  sich selbst ausübt,
       ist weit geringer als derjenige der uninteressirten Gesammtheit. Wenn
       z. B. der wirthschaftlich günstiger Gestellte den Anforderungen der
       Wohlthätigkeit innerhalb gewisser Grenzen  nicht entsprechen  will,
       so ist die Auffassung der Gesellschaft nicht deshalb so rigoros, weil
       ihre Mitglieder im Durchschnitt höher stehen als er, sondern weil sie
       von denjenigen Interessen unberührt bleiben, die seinen humanen Re-
       gungen widerstreben.  Vielleicht am deutlichsten ist diese Einwirkung
       auf dem Gebiet der äußeren Umgangsformen,     des xlnstandes, der
       Höflichkeit und zum Theil auch noch der Billigkeit und der Gerech-
       tigkeit.  Namentlich unter den Geboten  des Anstandes,  der Höf-
       lichkeit und  des  gesellschaftlichen Ceremoniells  seufzt gelegenthch
       wohl  ein jeder, aber dennoch  trägt  er in  allen anderen Fällen, in
       denen  er von der Befolgung   jener Normen  nichts zu leiden  hat,
       als Zuschauer  und   Beurtheilender  mit  zu  ihrem  weiteren  Be-
       stehen bei.  Es wirkt hierbei  eine Eigenschaft mit,  die  in anderen
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