Page 457 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Gründe für die Erhaltung der Cultur.
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Dinge, sondern einer nachträglichen Anpassung unseres Bewusstseins
an die gegebenen Thatsachen entspringen. Wir können diese An-
passung etwa auf die Formel bringen: es wird zu viel in die That-
sachen hineingelegt, oder auf die andere: es gilt im Sinne Hegel's
alles Wirkliche als vernünftig. Wir geben zunächst eine Reihe von
Beispielen.
Auf ethischem Gebiete nennen wir zuvörderst als ein übliches
Verfahren die außerordentliche Glorificirung der Geschlechtsliebe.
Es ist oft ausgesprochen, dass diese als eine blinde Leidenschaft an
sich weder gut noch böse ist, aber da theils sie selbst, theils ihr
Schein im Leben der Gesellschaft eine große Rolle spielt und oft
mit sittlichen Werthen eng verflochten ist, so hat sich die sittliche
Beurtheüung den Thatsachen in durchaus einseitiger und übertreiben-
der Weise angepasst, indem sie jene Verflechtung für nothwendig,
die sittlichen Folgen für die einzig auftretenden erklärt. Die wunder-
baren Sprünge femer, in denen sich das Schamgefühl bei verschie-
denen Völkern bewegt, die Widersprüche besonders, die es auch bei
derselben Gruppe zeigt, z. B. bei uns, wo es zwischen der äußer-
sten Prüderie und der weitgehenden Entblößung im Ballsaal hin-
und herpendelt, legen uns die Annahme einer nachträghchen An-
passung dieser Regungen wenigstens im Einzelnen zwingend nahe.
Auch die sittliche Rechtfertigung des Duells zählt hierher. Die ein-
seitige VerherrHchung des Mitleides, der Wohlthätigkeit und der
Nächstenliebe als der Angelpunkte der Moral hat ähnlich Nietzsche
als Ausgeburten der Lidolenz, der Bequemlichkeit und der Leistungs-
unfähigkeit auf höheren sittlichen Gebieten mit Recht gegeißelt.
Hierher gehören femer gewisse Urtheile über den inneren Gehalt
der modernen Cultur, im besonderen solche, die in bekannter ein-
seitiger Weise nur ihre wirthschaftliche Blüthe im Auge haben,
oder die geläufige Anpreisung des großstädtischen Wesens als
Blüthe der Menschheit. Als ein letztes einzelnes Beispiel führen
wir das bekannte Argument an, mit dem man jeden selbst unver-
hältnissmäßigen oder sinnlosen Aufwand des Einzelnen bei seiner
Lebensführung zu rechtfertigen sucht, dass es nämlich doch immer
verdienstlich sei, Geld unter die Leute zu bringen — eine Behaup-
tung, die bei einer auch nur einigermaßen näheren Prüfung sich
als so sinnlos erweist, dass sie den Stempel ihrer nachträghchen