Page 454 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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442 ^- Vierkandt.
der Ansprüche der gesellschaftlichen Etiquette ist dieses Verhältniss
vielleicht am klarsten. Hier tritt nämlich der innere Werth der
socialen Normen und damit der Antheil, den auch noch das eigene
sittliche Urtheil des Widerstrebenden an der Unterwerfung hat, am
meisten zurück. Hier handelt es sich in einer außerordentHchen
Annäherung um einen Mechanismus, bei dem alle Einzelnen
wechselseitig daraui hinwirken , einander einem Zwang zu unter-
werfen, den jeder Einzelne da, wo er selbst von ihm betroffen
wird, verabscheut. Von einem Mechanismus hier zu sprechen ist
deswegen so angebracht, weil die Wirkung, die wir hier betrachten,
nicht auf einer Entfaltung neuer Kräfte sondern nur auf einer be-
sonders zweckmäßigen Gruppirung der wirkenden Elemente beruht.
Eben deswegen ist auch der Ausdruck »Gresellschaft« so irreführend,
weil es sich bei allen diesen Einwirkungen der Gruppe auf den Ein-
zelnen keineswegs um ein verschiedenes Substrat, um eine höhere
sittliche Qualität, sondern um dieselben sittlichen Kräfte handelt, die
auch in dem einzelnen Widerstrebenden vorhanden sind, nur dass
sie bei ihm gelähmt, bei den andern aber frei sind. Für die wunder-
bare und räthselhafte Zweckmäßigkeit des socialen Lebens liefert
grade dieser Process des Rollenwechsels einen der lehrreichsten Be-
lege.
IL Die sachlichen Gründe.
Es handelt sich hier um die Thatsache, dass die Formen der Cultur
vielfach auch um ihrer selbst willen, nämhch wegen des ihnen bei-
gelegten logischen, ethischen, ästhetischen oder praktischen Werthes
bewahrt werden. Wir unterscheiden dabei zwei Typen. Entweder
schöpft das Bewusstsein seine Ueberzeugung vom Werthe des be-
treffenden Culturgutes aus diesem selbst, d. h. genauer aus dem Ein^
druck, den es von ihm an und für sich empfängt und ebenso em-
pfangen würde, falls es als isolirtes Wesen allein ihm gegenüberstände
oder es wird bei seiner Schätzung thatsächlich von den Anschauungen
seiner Umgebung beeinflusst und sucht diese, jenes Zusammenhanges
unbewusst, nachträglich vor sich und anderen aus sachlichen Gründen
zu rechtfertigen. Wir unterscheiden beide Fälle als primäre und
secundäre sachliche Gründe.