Page 454 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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       der Ansprüche der gesellschaftlichen Etiquette ist dieses Verhältniss
       vielleicht am  klarsten.  Hier  tritt nämlich  der innere Werth der
       socialen Normen und damit der Antheil, den auch noch das eigene
       sittliche Urtheil des Widerstrebenden an der Unterwerfung hat, am
       meisten  zurück.  Hier handelt  es  sich  in einer außerordentHchen
       Annäherung um     einen  Mechanismus,   bei  dem   alle  Einzelnen
       wechselseitig  daraui  hinwirken ,  einander einem Zwang zu  unter-
       werfen,  den  jeder Einzelne  da,  wo  er  selbst von ihm betroffen
       wird,  verabscheut.  Von einem Mechanismus   hier zu  sprechen  ist
       deswegen so angebracht, weil die Wirkung, die wir hier betrachten,
       nicht auf einer Entfaltung neuer Kräfte sondern nur auf einer be-
       sonders zweckmäßigen Gruppirung der wirkenden Elemente beruht.
       Eben deswegen ist auch der Ausdruck »Gresellschaft« so irreführend,
       weil es sich bei allen diesen Einwirkungen der Gruppe auf den Ein-
       zelnen keineswegs um  ein verschiedenes Substrat, um  eine höhere
       sittliche Qualität, sondern um dieselben sittlichen Kräfte handelt, die
       auch  in dem einzelnen Widerstrebenden vorhanden sind, nur dass
       sie bei ihm gelähmt, bei den andern aber frei sind. Für die wunder-
       bare und  räthselhafte Zweckmäßigkeit des  socialen Lebens  liefert
       grade dieser Process des Rollenwechsels einen der lehrreichsten Be-
       lege.


                           IL Die sachlichen Gründe.

          Es handelt sich hier um die Thatsache, dass die Formen der Cultur
       vielfach auch um ihrer selbst willen, nämhch wegen des ihnen bei-
       gelegten logischen,  ethischen, ästhetischen oder praktischen Werthes
       bewahrt werden.   Wir unterscheiden dabei zwei Typen.   Entweder
       schöpft das Bewusstsein  seine Ueberzeugung vom Werthe des be-
       treffenden Culturgutes aus diesem selbst,  d. h. genauer aus dem Ein^
       druck, den  es von ihm an und für sich empfängt und ebenso em-
       pfangen würde, falls es als isolirtes Wesen allein ihm gegenüberstände
       oder es wird bei seiner Schätzung thatsächlich von den Anschauungen
       seiner Umgebung beeinflusst und sucht diese, jenes Zusammenhanges
       unbewusst, nachträglich vor sich und anderen aus sachlichen Gründen
       zu rechtfertigen.  Wir unterscheiden beide Fälle  als primäre und
       secundäre sachliche Gründe.
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