Page 449 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Gründe für die Erhaltung der Cultur. 437
10) Der allmähliche Wechsel der Generationen. Wir
meinen hiermit die Bedeutung der Jugend als eines Zeitalters der
Unselbständigkeit und den Einfluss der Erziehung und Tradition
während dieses Stadiums. Ueberlieferung und Erziehung lassen dem
heranwachsenden Geschlecht die vorhandenen Culturformen zum großen
Theil bereits in Fleisch und Blut übergehen, ehe es entwickelt genug
ist, um eine Kritik an ihnen zu üben oder den Versuch eines selb-
ständigen Benehmens ihnen gegenüber ins Werk setzen zu können.
Auch über die eigentliche Blindheit hinaus macht sich noch ein ahn-
Hches Yerhältniss bemerklich, insofern bekanntlich im allgemeinen die
einflussreichsten Stellungen in der Gesellschaft sowohl bei den Natur-
völkern wie auch bei uns im poHtischen, wirthschafthchen und geistigen
Leben von älteren Leuten bekleidet werden. Da diese durchschnitt-
lich conservativer als die Jugend sind, so wirkt auch dieses Verhält-
niss im Sinne der Erhaltung der Gulturformen. Es findet so ein
merkwürdiges Verhältniss der Ausschließung zwischen der Neigung
und der Fähigkeit zum Widerstände gegen die vorhandenen Gultur-
formen statt. So lange noch die Neigung in der jungen Generation
vorhanden sein könnte, hat sie nicht die Fälligkeit zum selbständigen
Benehmen, und wenn sie diese erlangt hat, ist jene erloschen. Man
könnte unter diesem Gesichtspunkte das heranwachsende Geschlecht
unter dem Symbol eines gefangenen Vogels vorstellen, dem man erst
in dem Augenblick die Freiheit wiedergibt, in dem seine Schwingen
gestutzt sind.
11) Wechselwirkungen zwischen Handlung und Denk-
weise. Wir erläutern den hier gemeinten Factor zunächst an einigen
Beispielen. Die Naturvölker, vorzüglich ihre Priester, verkehren mit
der Geisterwelt bekanntlich sehr intensiv in Gestalt von Ekstasen,
Visionen und Träumen. Der Inhalt dieser Bewusstseinszustände ent-
spricht dabei dem allgemeinen Satze, dass in diesem pathologischen
Zustande die Wünsche, Hoffnungen und Meinungen des Menschen
anschauHche Gestalt annehmen, die subjective Seite seines Bewusst-
seins für ihn gleichsam Fleisch und Blut wird. In der Ekstase oder
Vision erlebt der Priester dasjenige, was er vorher zu erleben glaubt
oder hofft; im Traume schaut der Einzelne die Götter- oder Geister-
welt so, wie er sie sich nach dem Glauben seines Stammes gedacht