Page 453 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 453
441
Die Grunde für die Erhaltung der Cultur.
Fällen sich nicht im günstigen sondern im ungünstigen Sinne
bemerklich macht, nänüich die geringe Befähigung der meisten
Menschen, sich in den Zustand eines andern hinein zu versetzen,
insbesondere also auch die inneren Widerstände nachzufühlen
und zu würdigen, die ihm die Erfüllung derartiger Normen er-
schweren.
In anderen Fällen hat die Gruppe ein persönHches Interesse an
der Befolgung ihrer Normen z. B. bei der Bestrafung von Verbrechern,
bei dem Rechts- oder Gresetzesbruch, bei der Besteuerung und über-
haupt bei der Aufrechterhaltung der staatlichen und gesellschaft-
lichen Ordnung. Wenn hier die Gruppe jede Auflehnung gegen
sie verurtheilt, so wirken dabei offenbar egoistische und sittUche
Kräfte zusammen. Aber wesentlich ist auch hier, dass die Be-
urtheilenden jedesmal über der ColUsion der Interessen stehen, von
dem Drucke frei sind, der den Widerspenstigen zur Auflehnung an-
treibt.
Man pflegt den hier betrachteten Sachverhalt wohl auf die Formel
zu bringen : die Gesellschaft zwingt den Einzelnen wider seine eigenen
Interessen zu handeln, oder man sagt auch : die sitthche, gesellschaftr-
liehe und staatliche Ordnung entspricht dem Egoismus der Gesammt-
heit, und diese sorgt daher für sich selbst, wenn sie den Einzelnen
an der Auflehnung gegen sie verhindert. Diese Ausdrucksweise ver-
schleiert den wahren Sachverhalt schon dadurch, dass sie sich mit
der einfachen Beschreibung des complexen Zustandes und Vorganges
begnügt, statt ihn in seine Bestandtheile zu zerlegen. Sie verhüllt
insbesondere aber das Eigenartige dieses Verhältnisses auch deswegen,
weil sie gar nicht auf denjenigen Vorgang eingeht, den wir in der
üeberschrift als Rollenwechsel bezeichnet haben. Abgesehen nämlich
von den gröberen Verletzungen der bestehenden Ordnung kommt
gelegentlich jeder Einzelne in die Lage, sich gegen sie zu vergehen
oder gegen sie vergehen zu wollen und dabei denselben Druck der
Gruppe zu erfahren, an dem er in anderen Fällen selbst mitzuwirken
pflegt. In einem Bilde könnte man von einer Gruppe sprechen,
deren Mitglieder sich gegenseitig selbst Ketten anlegen, von denen
jedesmal ein Einzelner sich von den übrigen die Fessehi schmieden
lässt, um sich danach, während das Loos der Reihe nach die anderen
trifft, selber an dieser Knechtung zu betheiligen. Bei der Befolgung