Page 458 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Anpassung an gegebene Realitäten an der Stirn trägt. Endlich ge-
hört hierher die bekannte sittliche Rechtfertigung der bestehenden
gesellschaftlichen Institutionen wie der Ehe, des Besitzes, der Gliede-
rung einer Gresellschaft in Stände und Classen, der Art der Regie-
rung und ihrer Thätigkeit, der Kirche u. s. w. Das naive Denken
ist gewöhnt, allen diesen Institutionen, indem es in einseitiger "Weise
bei ihnen lediglich das Licht, nicht den Schatten sieht, eine über-
triebene sittliche Bedeutung beizulegen und sie als völlig unentbehr-
liche Grundlagen alles humanen Lebens zu denken, die durch keine
anderen ersetzt oder auch nur modificirt werden könnten. Wenn man
bedenkt, wie einige dieser Institutionen ursprünglich vorzugsweise auf
Raub, List und Gewalt und dergleichen sich aufbauten und sich erst
später mehr oder weniger ethisirt haben, so wird man an das den
Typus dieser Erscheinungen charakterisirende Dichterwort gemahnt:
Sei im Besitze und du wohnst im Recht. — Eine ähnliche Anpassung
stellt die Rechtfertigung mancher Erscheinungen unter dem Gesichts-
punkte ihrer Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dar, indem diese
letzteren thatsächlich häufig viel geringer, als man annimmt, oder
völlig illusorisch sind. "Wir meinen eine Fülle von Gebräuchen und
Gepflogenheiten in den verschiedenen Gewerben, den Maßregeln der
Regierung, der Schule, der Kirche oder den Gewohnheiten anderer
Berufsarten. Mit einem besonderen Falle dieses Typus hängt die
von Herbert Spencer so eingehend geschilderte naive Ueber-
schätzung der Macht des Staates zusammen, den das populäre Denken
so gern als ein alles vermögendes Wesen auffasst, welches durch
Gesetz und Institutionen alle Schäden zu heilen vermöchte, obwohl
die Erfahrung täglich das Gegentheil beweist. Diese Ueberschätzung
bedeutet nicht nur an sich eine Anpassung des Werthurtheiles an
die Realität, sondern bildet auch die Grundlage für die eben er-
wähnte Rechtfertigung so vieler staatlicher Maßregeln unter dem Ge-
sichtspunkte der Nützlichkeit.
Indem wir aus dem ästhetischen Gebiet nur die nachträgliche
Rechtfertigung auch der unsinnigsten Moden im Gebiete der Tracht
oder der Umgangsformen, sowie die sachliche Begründung so mancher
Tagesströmungen auf dem Gebiete der Literatur oder Kunst nennen,
wenden wir uns sofort den logischen Anpassungen zu, d. h. der
Thatsache, dass Urtheilen, die von Haus aus einen rein socialen