Page 517 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Zur Theorie des Bewusstseinsumfanges und seiner Messung.
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Inhalte, sondern eben nur auf die möglichste Annäherung an einen
irgendwie anders bestimmten Fall des alltäglichen Lebens ankommt,
dann sind natürlich auch die Zeitverhältnisse der Exposition dement-
sprechend zu wählen. Somit besteht also von dieser Seite auch kein
Einwand gegen eine Expositionszeit von ca. 100^, wie sie in den Ver-
suchen von Erdmann und Dodge (s. u.) verwendet wurde, wenn
alle Elemente festgestellt werden sollen, welche beim normalen Lesen
in derjenigen Zeitdauer aufgefasst werden können, wie sie für ge-
wöhnlich durch die fortschreitenden Augenbewegungen als Lesepause
abgegrenzt wird. Anderseits kann aber natürhch auch von dieser
ganz andersartigen Fragestellung nichts über die Versuchsbedingungen
entschieden werden, welche für Umfangsbestimmungen nothwendig
sind. Bei den letzteren kommt es gerade auf die möglichst ideale
Grleichzeitigkeit der experimentell dargebotenen Vorstellungen an, da
aus einem länger dauernden Processe von geringer absoluter Gesammt-
dauer die wirklich simultanen Einzelbestände nicht mehr nachträglich
auseinander zu halten sind, welche ein und die nämUche Klarheits-
Vertheilung enthalten. Die Veränderung dieser Vertheilung aber
kann mit außerordentlicher Geschwindigkeit vor sich gehen, wes-
halb bekanntlich auch Wundt gerade auf die Nothwendigkeit von
Minimalzeiten zum Ausschluss von »Aufmerksamkeitswanderungen«
hingewiesen hat^). Eine exacte Messung der Geschwindigkeit, mit
welcher sich derartige Verschiebungen der Klarheitsgrade vollziehen,
ist wohl schwer möglich. Man kann aber vielmehr umgekehrt fragen,
woraus man denn die Möglichkeit einer wirklichen Ruhezeit erschheßen
könne, und da wird man aus der allgemeinen Eigenschaft des Bewusst-
seinslebens als eines continuirlichen Verlaufes von vorne herein sagen
können, dass der »Blickpunkt« wie überhaupt alle relativen Höhepunkte
des Reliefs der Aufmerksamkeitsvertheilung fortwährend auf der
"Wanderung begriffen sind, dass es also keine noch so kleinste Zeit
gibt, welche als Ruhe nach dieser Hinsicht zu bezeichnen ist. Nur
der objective Inhalt, den wir nach den verschiedensten Richtungen
betrachten können, täuscht für die Reflexion einen langsameren Ver-
lauf des inneren Lebens vor. Insbesondere muss die Analogie zum
1) Wandt, Philos. Studien XV, S. 287 ff. XVI, S. 69 ft.