Page 1052 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Zweiundvierzigstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Erzwungene Versprechungen braucht man nicht zu halten.
Als die Konsuln mit dem entwaffneten Heer schmachbedeckt nach Rom
zurückkehrten, war der Konsul Spurius Posthumius der erste, der im
Senat sagte, der caudinische Friede dürfe nicht gehalten werden, denn
das römische Volk wäre keine Verpflichtung eingegangen, sondern er
und die andern, die den Frieden versprochen hätten. Wolle sich daher das
Volk von jeder Verpflichtung frei machen, so brauche es nur ihn und alle
andern, die den Frieden gelobt hätten, den Samnitern auszuliefern. Auf
dieser Meinung beharrte er so standhaft, daß der Senat ihn und die
andern gefangen nach Samnium schickte und den Frieden für ungültig
erklärte. So günstig aber war in diesem Fall dem Posthumius das
Schicksal, daß die Samniter ihn nicht behielten und daß er nach seiner
Rückkehr durch seine Niederlage bei den Römern in höheren Ehren
stand, als Pontius durch seinen Sieg bei den Samnitern.
Hierbei sind zwei Dinge bemerkenswert. Erstens, daß man bei jeder
Handlung Ruhm erwerben kann, gewöhnlich durch den Sieg, doch auch
bei einer Niederlage, wenn man beweist, daß man keine Schuld daran
trägt, oder wenn man gleich darauf eine Tat vollbringt, die die Schuld
wiedergutmacht. Zweitens, daß es keine Schande ist, erzwungene
Versprechungen nicht zu halten. Wenn sie den Staat betreffen, werden sie
stets gebrochen, sobald der Zwang aufhört, ohne daß es dem, der sie
bricht, zur Schande gereicht. Vgl. Cicero, De officiis, I,10. Die
Weltgeschichte liefert mannigfache Beispiele dafür, und jeder Tag zeigt
uns neue. Die Fürsten brechen nicht allein erzwungene Verträge, wenn
der Zwang aufhört, sondern auch alle andern Versprechungen, sobald die
Beweggründe aufhören. Wohl nach Herodot, I, 74. Ob das lobenswert ist
oder nicht und ob sich ein Fürst so benehmen soll oder nicht, ist in unsrer
Abhandlung »Vom Fürsten« Kap. 18. weitläufig behandelt worden,
weshalb wir hier davon schweigen.
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