Page 1053 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Dreiundvierzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                 Die Menschen eines Landes bewahren in allen Zeiten fast das gleiche
                                                        Wesen.


                Kluge Männer pflegen nicht unbedacht und nicht ohne Grund zu sagen,
                wer die Zukunft voraussehen wolle, müsse auf die Vergangenheit
                blicken, denn alle Dinge auf Erden haben jederzeit Ähnlichkeit mit den
                vergangenen gehabt. Das kommt daher, daß sie von Menschen vollbracht

                werden, die immer die gleichen Leidenschaften besitzen und besaßen;
                mithin muß das Ergebnis auch immer das gleiche sein. Allerdings sind
                ihre Handlungen bald in diesem, bald in jenem Lande tugendhafter, je
                nach der Art der Erziehung, die die Lebensart der Völker ihnen gegeben
                hat. Aber man kann doch leicht aus dem Vergangenen auf das Zukünftige

                schließen, weil ein Volk lange die gleichen Sitten behält und entweder
                immer habsüchtig oder betrügerisch ist oder irgendeinen derartigen
                Fehler oder Vorzug hat. Wer die Geschichte unsrer Stadt Florenz liest
                und dann die neuesten Begebenheiten betrachtet, wird die Deutschen und
                Franzosen stets habsüchtig, wild und treulos finden, denn durch diese
                vier Eigenschaften wurden unserer Stadt zu verschiedenen Zeiten
                schwere Wunden geschlagen. Was die Wortbrüchigkeit betrifft, so weiß

                ein jeder, wie oft König Karl VIII. von Frankreich Geld erhielt und dafür
                die Zitadelle von Pisa S. Buch I, Kap. 38, und Lebenslauf, 1494.
                auszuliefern versprach, was er aber nie tat. Hierdurch hat er seinen
                Mangel an Treu und Glauben und seine große Habsucht bewiesen.
                Lassen wir jedoch diese neuen Vorgänge.
                     Jeder wird gehört haben, was sich in den Kriegen von Florenz gegen

                die Visconti von Mailand zutrug, wo Florenz in seiner höchsten Not auf
                den Gedanken kam, den Kaiser nach Italien zu rufen, damit er mit
                seinem Ansehen und seiner Macht die Lombardei angriffe. Der Kaiser
                versprach, mit einem großen Heer zu erscheinen, den Visconti den Krieg
                zu erklären und Florenz gegen ihre Gewalt zu schützen, wenn ihm
                Florenz 100 000 Dukaten zur Rüstung und die gleiche Summe nach
                seiner Ankunft in Italien zahlte. Die Florentiner gingen darauf ein,

                zahlten die erste Summe und danach die zweite. Als er aber bis Verona
                gekommen war, kehrte er unverrichteter Dinge wieder um, unter dem





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