Page 1058 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Sechsundvierzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                  Wie es kommt, daß ein Geschlecht in einer Stadt lange die gleichen
                                                   Sitten bewahrt.


                Anscheinend hat nicht nur jede Stadt ihre eignen Gebräuche und
                Einrichtungen, durch die sie sich von andern unterscheidet, und erzeugt
                härtere oder weichlichere Menschen, sondern man findet auch einen
                solchen Unterschied zwischen den Geschlechtern einer Stadt. Daß dies

                zutrifft, sieht man überall; auch Rom liefert viele Beweise dafür. So
                waren die Manlier hart und starrsinnig, die Publicola gütig und
                volksfreundlich, die Appier ehrgeizig und Feinde der Plebejer, und
                ebenso hatten viele andre Familien ihre besonderen Eigentümlichkeiten.
                Vom Blute allein kann das nicht kommen, da es sich ja durch die

                Verschiedenheit der Heiraten ändert, sondern es muß notwendig von der
                verschiedenen Erziehung in den einzelnen Familien rühren. Denn es
                kommt viel darauf an, ob ein Knabe von frühster Jugend an immer Gutes
                oder Böses von einer Sache reden hört. Das läßt notwendig einen
                Eindruck zurück, der sein Betragen in jedem Lebensalter bestimmt.
                Wäre dem nicht so, so hätten unmöglich alle Appier dieselbe Gemütsart
                haben und von denselben Leidenschaften beherrscht sein können, wie

                wir es nach Livius' Darstellung doch bei vielen sehen, zuletzt bei dem
                Zensor Appius. Appius Claudius Caecus, Zensor seit 213 v. Chr. Er
                erbaute die Via Appia und die appische Wasserleitung (Aqua Claudia).
                Sein Amtsgenosse legte nach achtzehn Monaten, wie das Gesetz es
                vorschrieb, sein Amt nieder, aber Appius wollte das nicht tun und
                behauptete, er könne nach dem ersten Gesetz über die Zensur fünf Jahre

                im Amte bleiben. Obwohl hierüber nun viele Volksversammlungen
                abgehalten wurden und zahlreiche Unruhen entstanden, so war es doch
                trotz dem Willen des Volkes und der Mehrheit des Senates nie möglich,
                ihn zum Rücktritt zu bewegen. Aus der Rede, Livius IX, 34 (310 v. Chr.)
                die der Volkstribun Publius Sempronius gegen ihn hielt, kann man all
                den Appischen Übermut ersehen, aber auch all den Gehorsam zahlloser
                Bürger gegen die Gesetze und ihre vaterländische Gesinnung.










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