Page 1060 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Achtundvierzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                       Wenn der Feind einen großen Fehler macht, muß man eine
                                          Kriegslist dahinter vermuten.


                Als sich der Konsul wegen gewisser Feierlichkeiten nach Rom begeben
                hatte und der Legat Fulvius allein bei dem Heer in Etrurien geblieben
                war, versuchten die Etrusker den Legaten ins Netz zu locken. Sie legten
                in der Nähe des römischen Lagers einen Hinterhalt und schickten einige

                Soldaten in Hirtenkleidung mit viel Vieh ab, das sie unter den Augen des
                römischen Heeres bis an den Lagerwall herantrieben. Der Legat
                wunderte sich über diese Frechheit, die ihm ganz unnatürlich schien, und
                deckte die List auf, so daß der Plan der Etrusker mißlang. Livius X, 4
                (302 v. Chr.) Hieraus läßt sich leicht ersehen, daß ein Feldherr einem

                offenbaren Fehler des Feindes nie trauen darf, denn immer wird eine List
                dahinterstecken, weil die Menschen vernünftigerweise nicht so
                unvorsichtig sein können. Allein das Siegesverlangen verblendet sie
                häufig derart, daß sie nur das sehen, was ihnen vorteilhaft dünkt. Als die
                Gallier nach ihrem Sieg an der Allia gegen Rom rückten und die Tore
                offen und unbewacht fanden, warteten sie Tag und Nacht mit dem
                Einmarsch, weil sie eine List fürchteten und die Römer nicht für so feig

                und unvernünftig halten konnten, ihre Vaterstadt preiszugeben.
                     Als die Florentiner 1508 Pisa belagerten, versprach Alfonso del
                Mutolo, ein gefangener Pisaner, dem Florentiner Heer ein Tor von Pisa
                zu übergeben, wenn man ihn freiließe. Dies geschah. Um nun die Sache
                ins Werk zu setzen, hatte er häufig Besprechungen mit dem
                Bevollmächtigten der Kommissare, und zwar nicht heimlich, sondern

                offen und in Begleitung von Pisanern, die er zur Seite treten ließ, sobald
                er mit den Florentinern sprach. Hieraus konnte man also leicht auf seine
                Doppelzüngigkeit schließen, weil es unvernünftig gewesen wäre, bei
                ehrlicher Absicht so offen zu verhandeln. Allein die Begierde, Pisa zu
                erobern, machte die Florentiner so blind, daß sie sich nach seiner
                Weisung zum Tore von Lucca begaben und dort durch den doppelten
                Verrat des Alfonso mehrere Offiziere und andre Leute zu ihrer Schande

                verloren.







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