Page 151 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Geringeres sich findet, und wann nun das von Natur aus Bessere eine
Herrschaft über das Geringere ausübt, so nenne man dieß das »stärker,
als man selbst ist«, und lobe es, wann hingegen in Folge schlechter
Pflege oder irgend eines Verkehres durch die Menge des Geringeren das
wenigere bessere bewältigt wurde, dann tadle man dieß als eine Schande
und nenne es das »schwächer, als man selbst ist«, und den derartig sich
verhaltenden Menschen einen Zügellosen. – Ja, so scheint es auch, sagte
er. – Blicke demnach, sprach ich, auf unsern jungen Staat hin, und du
wirst finden, daß in demselben das eine von diesen beiden statthabe; du
wirst nemlich sagen, daß er mit Recht ein stärkerer, als er selbst ist,
genannt werde, woferne dasjenige, dessen tüchtigerer Theil über den
geringeren herrscht, ein besonnenes und ein solches genannt werden
muß, welches stärker ist, als es selbst ist. – Ja, ich blicke hin, sagte er,
und finde, daß du Recht hast. – Und nun möchte man ja jene vielen und
mannigfaltigen Begierden und Vergnügungen und Betrübnisse wohl
zumeist bei fast Allen finden, und bei Weibern und Sklaven und unter
den sogenannten Freien bei der großen Menge und bei den
Verwerflichen. – Ja, allerdings wohl. – Jene einsamen aber und mäßigen,
welche mit Einsicht und richtiger Meinung verbunden sind und durch
eine vernünftige Erwägung geleitet werden, möchte man wohl nur bei
Wenigen antreffen, und zwar bei denjenigen, welche am besten begabt
und am besten gebildet sind. – Dieß ist wahr, sagte er. – Nicht wahr also,
du siehst, daß auch dieß dir in deinem Staate sich vorfindet, und daß
dortselbst die Begierden der Mehreren und Verwerflichen durch die
Begierden und die Klugheit der Wenigeren und Tüchtigeren bewältigt
werden. – Ja gewiß, sagte er. –
9. Woferne man also von einem Staate überbauet die Bezeichnung
gebrauchen soll, daß er stärker sei, als die Vergnügungen und Begierden
sind, und stärker, als er selbst ist, so muß man dieß auch von diesem
Staate sagen. – Ja, durchaus wohl, sagte er. – Müssen wir ihn also nicht
auch einen besonnenen aus all diesen Gründen nennen? – Ja, in hohem
Grade, sagte er. – Und nun wird auch hinwiederum, wenn in irgend
einem anderen Staate den Herrschenden und Beherrschtwerdenden diese
Meinung betreffs der Frage, wer der Herrschende sein solle, einwohnt,
gewiß auch in diesem das Nemliche stattfinden; oder scheint es dir
nicht? – Ja, in sehr hohem Grade, sagte er. – In welcher von beiden Arten
von Bürgern wirst du nun sagen, daß das Besonnensein beruhe, in den
Herrschenden oder in den Beherrschtwerdenden? – In beiden doch wohl,
sagte er. – Siehst du also, sagte ich, daß wir es vorhin so ziemlich richtig
ahnten, daß die Besonnenheit einer Harmonie ähnlich sei? – Wie so? –
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