Page 152 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Weil nicht in der Weise, wie die Tapferkeit und die Weisheit je in einem
                bestimmten Theile des Staates befindlich ihn zu einem weisen und
                tapfern uns machte, etwa ebenso auch die Besonnenheit wirkt, sondern

                diese durch den ganzen Staat ausgespannt ist und so ziemlich wie in
                einer Ton-Octave ein Zusammenstimmen bewirkt zwischen den
                Schwächsten und den Mächtigsten und den Mittleren, magst du hiebei an
                Klugheit oder an Macht oder an Menge und Vermögen oder irgend etwas
                Anderes dergleichen denken; so daß wir wohl am richtigsten diese
                Eintracht als Besonnenheit bezeichnen mochten, insoferne sie ein
                Zusammenstimmen des von Natur aus Geringeren und Tüchtigeren

                darüber ist, welches von diesen beiden im Staate und in jedem einzelnen
                Menschen das Herrschende sein solle. – Ja, völlig ebenso, sagte er,
                scheint es auch mir. –
                     Weiter, sagte ich; diese drei Dinge also haben wir hiemit in dem
                Staate erblickt, wenigstens insoweit sie uns so zu sein schienen; aber wie
                nun mag es wohl mit jener vierten Art stehen, vermöge deren der Staat

                noch an Vortrefflichkeit Theil hat? daß nemlich diese vierte die
                Gerechtigkeit sei, ist uns schon klar. – Ja, klar ist dieß. – Nicht wahr also,
                o Glaukon, jetzt wohl müssen wir gleichsam wie Jäger ein Gebüsch rings
                im Kreise umstellen, wohl darauf achtend, daß uns nicht irgendwo die
                Gerechtigkeit entwische und, unseren Blicken sich entziehend,
                unsichtbar werde; denn offenbar muß sie da irgendwo stecken; sieh also
                zu und gib dir Mühe, sie zu erblicken, ob du sie vielleicht eher siehst, als

                ich, und mir es dann sagest. – Ja, ich wollte wohl, sagte er; aber weit
                eher wirst du mich dazu brauchen können, daß ich hinter dir darein gehe
                und allenfalls erblicken kann, was du mir zeigst, und du wirst so ganz
                richtig mich gebrauchen. – So geh denn hinter mir, sprach ich, und
                verrichte mit mir ein Gebet. – Ich werde dieß thun, sagte er, aber geh nur
                du voran. – Ja, und in der That, sprach ich, schwer zugänglich und stark

                umschattet scheint der Ort zu sein; er ist wenigstens gar dunkel und
                schwer zu durchspähen: dennoch aber müssen wir vorwärts dringen. – Ja
                wohl, vorwärts dringen, sagte er. – Und ich erblickte etwas und rief:
                Hier! Hier! o Glaukon; es kommt darauf hinaus, daß wir bereits eine
                Spur haben, und es scheint mir, sie solle uns nicht leicht entwischen. –
                Eine treffliche Botschaft, sagte er. – Ei, wahrlich, sprach ich, welch eine
                Tölpelei ist uns doch widerfahren! – Welche denn? – Schon längst, ja, o

                du Hochzupreisender, hat offenbar von Anfang an das Ding zu unseren
                Füßen sich herumgewälzt, und wir sahen es nicht, sondern waren
                wirklich höchst lächerliche Menschen, wie diejenigen, welche bisweilen
                suchen, was sie schon in Händen haben; und so haben auch wir nicht auf





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