Page 207 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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das Seiende ist? Vielmehr aber scheint es mir nöthig, vorher in folgender
                Weise es zu erörtern. – In welcher? –
                     21. Wollen wir sagen, daß die Fähigkeiten überhaupt irgend eine

                Gattung des Seienden seien, vermöge deren sowohl wir zu Allem fähig
                sind, wozu wir es sind, als auch jedes andere Ding, welches zu Etwas
                fähig ist, ich meine z. B. daß das Sehen und das Hören zu den
                Fähigkeiten gehören, woferne du verstehst, was ich überhaupt unter
                diesem Artbegriffe meine. – Ich verstehe es aber ja, sagte er. – Höre aber,
                was sich mir in diesem Betreffe zeigt: an einer Fähigkeit nemlich
                erblicke ich weder eine Farbe noch eine Gestalt noch irgend etwas

                Derartiges, wie an vielen anderen Dingen, worauf hinblickend ich es
                bezüglich einiger Dinge bei mir feststellen kann, daß die einen dieß und
                die anderen jenes seien; hingegen bei einer Fähigkeit blicke ich nur auf
                jenes, zu dessen Behuf sie da ist und was sie bewirkt, und in dieser
                Beziehung gebe ich jeder einzelnen Fähigkeit einen Namen, und jene,
                welche zum Behufs des Nemlichen besteht und das Nemliche bewirkt,

                nenne ich die nemliche, diejenige aber, welche zum Behufe eines
                Anderen da ist und Anderes bewirkt, nenne ich eine anderweitige. Wie
                aber hältst du es hierin? – Eben so, sagte er. – Noch einmal demnach,
                mein Bester, sprach ich, wende dich hieher zu mir. Behauptest du, daß
                das Wissen irgend eine Fähigkeit sei, oder in welche Gattung stellst du
                es? – Eben in diese, sagte er, da es ja unter allen Fähigkeiten die stärkste
                ist. – Wie aber? werden wir die Meinung unter die Fähigkeiten, oder

                unter irgend einen anderen Artbegriff unterbringen? – Keinenfalls unter
                einen anderen, sagte er; denn jenes, vermittelst dessen wir fähig sind,
                Etwas zu meinen, ist eben nichts Anderes als die Meinung. – Nun aber
                hast du ja kurz vorher zugestanden, daß Wissen und Meinung nicht das
                Nemliche seien. – Wie sollte ja auch, sagte er, jemals ein Verständiger
                das Unfehlbare als das Nemliche wie das nicht Unfehlbare bezeichnen? –

                Recht, sagte ich; und es ist hiemit klar, daß unserseits die
                Verschiedenheit zwischen Wissen und Meinung zugestanden ist? – Ja,
                die Verschiedenheit. – Also zum Behufe eines Verschiedenen ist jedes
                von diesen beiden als ein zu Verschiedenem Befähigtes von Natur aus
                bestimmt. – Ja, nothwendig. – Das Wissen nemlich doch wohl zum
                Behufe des Seienden, um einzusehen, wie das Seiende sich verhalte? –
                Ja. – Die Meinung aber, sagen wir. um eben zu meinen. – Ja. – Wird sie

                also etwa das Nemliche einsehen, was das Wissen einsieht? und ist
                dasjenige, was eingesehen werden kann, und jenes, was gemeint werden
                kann, das Nemliche? oder ist dieß unmöglich? – Ja, unmöglich, sagte er,
                in Folge des schon Zugestandenen, woferne nemlich zum Behufe von





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