Page 208 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Verschiedenem verschiedene Fähigkeiten von Natur aus bestimmt sind,
                Fähigkeiten aber eben jene beiden, nemlich die Meinung und das
                Wissen, sind, jede aber, wie wir sagten, eine verschiedene; in Folge

                dessen demnach geht es nicht an, daß, was eingesehen werden kann, und
                was gemeint werden kann, das Nemliche sei. – Nicht wahr also, wenn
                das Seiende eingesehen werden kann, so möchte wohl etwas Anderes als
                das Seiende jenes sein, was gemeint werden kann? – Ja, etwas Anderes.
                – Wird also die Meinung etwa das Nichtseiende meinen, oder ist es
                unmöglich, das Nichtseiende ja auch nur zu meinen? Bedenke aber nur
                Folgendes: Richtet denn nicht der Meinende seine Meinung auf irgend

                Etwas? oder ist es hinwiederum möglich, bloß zu meinen und dabei
                Nichts zu meinen? – Dieß ist unmöglich. – Aber irgend Eines ja meint
                der Meinende? – Ja. – Nun aber würde es ja, wenn es ein Nichtseiendes
                wäre, nicht ein Eines, sondern am richtigsten ein Nichts genannt. – Ja
                allerdings. – Dem Nichtseienden aber haben wir ja nothwendig die
                Unkenntniß zugewiesen, und dem Seienden die Einsicht. – Ja, mir Recht,

                sagte er. – Also nicht ein Seiendes und auch nicht ein Nichtseiendes
                meint die Meinung. – Nein, allerdings nicht. – Also weder Unkenntniß
                noch Einsicht möchte die Meinung sein. – So scheint es. – Schreitet sie
                also etwa außerhalb dieser hinauf, nemlich entweder außerhalb der
                Einsicht vermöge einer Deutlichkeit, oder außerhalb der Unkenntniß
                vermöge einer Undeutlichkeit? – Keines von beiden. – Scheint also wohl
                hingegen, sprach ich, die Meinung Etwas zu sein, was dunkler als die

                Einsicht und heller als die Unkenntniß ist? – Ja, durchaus so, sagte er. –
                Innerhalb der beiden aber liegt sie? – Ja. – Also ein Mittelding zwischen
                diesen beiden möchte wohl die Meinung sein? – Ja wohl, gar sehr. –
                Nicht wahr also, wir sagten in dem Obigen, daß, falls sich uns etwas
                Derartiges zeigen würde, was zugleich ist und nicht ist, ein Solches in
                Mitte zwischen dem in reiner Weise Seienden und zwischen dem

                durchaus Nichtseienden liege, und daß weder Wissen noch Unkenntniß
                auf Seite desselben stehen werde, sondern hinwiederum jenes, was als
                Mittleres zwischen Unkenntniß und Wissen sich zeigen würde? – Ja,
                dieß ist richtig. – Nun aber hat sich uns ja ein Mittleres zwischen diesen
                gezeigt, welches wir so eben Meinung nannten? – Ja, es hat sich gezeigt.
                –
                     22. Es ist uns demnach, wie es scheint, noch übrig, jenes zu finden,

                was an jenen beiden, nemlich an dem Sein und an dem Nichtsein, Theil
                hat und als keines der beiden in voller Reinheit richtig bezeichnet wird,
                damit wir es, wenn es sich gezeigt hat, mit Recht als den Gegenstand der
                Meinung bezeichnen, den beiden Aeußersten das Aeußerste und dem





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