Page 213 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 213
Wächtern machen als jene, welche eine Einsicht in jedes Seiende haben,
an Erfahrung aber hinter jenen nicht zurückbleiben und auch in keinem
anderen Zweige der Vortrefflichkeit ihnen nachstehen? – Ungereimt ja,
sagte er, wäre es, Andere zu wählen, woferne jene wenigstens im
Uebrigen nicht zurückbleiben; denn eben an jenem Einen möchten sie
wohl schon so ziemlich den größten Vorsprung voraus haben. – Nicht
wahr also, dieß wollen wir denn nun angeben, auf welche Weise Ein und
die Nemlichen im Stande sein können, zugleich sowohl dieß als auch
jenes in sich zu tragen? – Ja allerdings. – Also, wie wir schon zu Anfang
dieser Begründung sagten B. V, Cap. 18 am Schlusse., die Begabung
derselben müssen wir vor Allem kennen lernen, und wenn wir uns über
diese genügend verständigt haben, werden wir, glaube ich, uns auch
darüber verständigen, daß sie, Ein und die Nemlichen, im Stande sind,
dieß Alles in sich zu tragen, und daß keine Anderen, als diese, die Führer
des Staates sein dürfen. – In welcher Weise? –
2. Dieß denn nun möge uns betreffs der Begabung der
Weisheitsliebenden zugestanden sein, daß sie stets jeden Lerngegenstand
lieben, der ihnen Etwas von jener Wesenheit klar macht, welche
immerwährend ist und nicht vermöge eines Entstehens und Vergehens
unstät irrt. – Ja, dieß sei zugestanden. – Und nun ja auch, sagte ich, daß
sie jene Wesenheit in ihrer Gesammtheit lieben und weder von einem
kleineren noch von einem größeren und weder von einem vorzüglicheren
noch von einem geringfügigeren Theile derselben freiwillig ablassen,
wie wir ja in dem Obigen Ebend. Cap. 19. dieß auch betreffs der
Ehrliebenden und der dem Eros Huldigenden durchgingen. – Du hast
Recht, sagte er. – Erwäge demnach hierauf auch noch bezüglich des
Folgenden, ob es außer dem Bisherigen in ihrer Begabung Diejenigen in
sich tragen müssen, welche Derartige sein sollen, wie wir sie meinen. –
Was denn wohl? – Daß sie ohne Lüge sindHöchst ungeschickt wäre es,
wenn man hier einen Widerspruch mit den obigen Aeußerungen Plato’s
(B. V, Cap. 8 u. s. Anm. 187), daß die Lüge gleichsam als Arzneimittel
zuweilen zulässig sei, argwöhnen wollte; denn hier ist ja von dem
Gebiete des reinen Wissens, welches der Weisheitsliebende erwirbt, die
Rede, nicht aber von Vorkehrungen, welche gegenüber anderen, und
zwar unvernünftigen, Menschen zuweilen geboten zu sein scheinen., und
freiwillig in keiner Weise die Unwahrheit in sich aufnehmen, sondern sie
hassen, die Wahrheit aber lieben? – Ja, es scheint so, sagte er. – Nicht
bloß scheint es ja so, mein Freund, sondern es ist auch durchaus
nothwendig, daß derjenige, welcher vermöge seiner Begabung dem Eros
gegen irgend Etwas huldigt, alles mit dem Gegenstande seiner Neigung
212