Page 214 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 214
Verwandte und demselben Angehörige liebe. – Dieß ist richtig, sagte er.
– Könntest du nun wohl Etwas finden, was der Weisheit mehr angehört,
als die Wahrheit? – Wie sollte ich auch? sagte er. – Ist es also etwa
möglich, daß Ein und die nemliche Begabung weisheitsliebend und
trugliebend sei? – Nein, in keiner Weise ja. – Wer also in Wirklichkeit
lernbegierig ist, muß nach jeder Wahrheit sogleich von Jugend an so sehr
als möglich ein Verlangen haben. – Ja, durchaus so. – Nun aber wissen
wir ja, daß, wessen Begierden auf irgend Eines hin sehr heftig gerichtet
sind, bei diesem sie gewiß bezüglich des Uebrigen schwächer sind, wie
wenn ein Strom eben dorthin abgeleitet wäre. – Warum auch nicht? –
Also bei wem sie auf die Lerngegenstände und all Derartiges
hingeströmt sind, bei diesem werden sie sich, glaube ich, um das
Vergnügen der Seele an und für sich drehen, bezüglich der körperlichen
Vergnügungen aber abnehmen, woferne er nemlich nicht in erdichteter
Weise, sondern in Wahrheit ein Weisheitsliebender ist. – Ja, durchaus
nothwendig ist dieß. – Besonnen wenigstens wird gewiß der Derartige
sein, und in keiner Weise geldliebend; denn dasjenige, um dessen willen
mit so vielem Aufwande nach Geld gestrebt wird, dürfte gebührender
Weise wohl jeder Andere eher als dieser anstreben. – Ja, so ist es. – Und
nun mußt du doch wohl auch noch Folgendes erwägen, wenn du
beurtheilen willst, welche Begabung eine weisheitsliebende sei, und
welche nicht. – Was denn wohl? – Daß sie nemlich nicht, ohne daß du es
bemerkst, an unfreiem Sinne Theil habe; denn Kleinlichkeit ist doch
wohl der größte Gegensatz gegen eine Seele, welche stets nach dem
ganzen und jedwedem Göttlichen und Menschlichen ein Verlangen
haben soll. – Ja, völlig wahr, sagte er. – Bei einer Gesinnung also,
welcher eine Großartigkeit und eine Betrachtung aller Zeiten und aller
Wesenheit einwohnt, hältst du es da für möglich, daß Jemandem das
menschliche Leben irgend etwas Großes zu sein scheine? – Nein, dieß ist
unmöglich, sagte er. – Nicht wahr also, auch den Tod wird der Derartige
nicht für etwas Furchtbares halten? – Gewiß am allerwenigsten. – Also
eine feige und unfreie Begabung möchte wohl, wie es scheint, an
Wahrheitsliebe keinen Theil haben? – Nein, wie mir scheint. – Wie nun
aber? kann derjenige, welcher ordentlich und nicht geldliebend und nicht
unfreien Sinnes und nicht ruhmredig und nicht feig ist, wohl in irgend
einer Beziehung im Verkehre unverträglich oder ungerecht werden? –
Nein, er kann es nicht. – Auch dieß demnach wirst du bei Erwägung der
weisheitsliebenden und der nicht weisheitsliebenden Seele sogleich von
Jugend auf bei den Menschen beachten, ob ihre Begabung eine gerechte
und sanfte, oder eine unzuverlässige und rohe sei. – Ja allerdings. – Also
213